Erfolg trotz Legasthenie

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Was haben Bill Gates, Liv Tyler, Steven Spielberg und Keira Knightley gemeinsam? Sie sind berühmt, erfolgreich und verfügen über ein gutes finanzielles Polster. Ja, vielleicht. Aber es ist mehr als das: Alle vier Stars haben eine Lese- und Rechtschreibstörung. Dass sie darunter „leiden“, kann man nicht direkt sagen. Vielleicht profitieren sie sogar davon. Denn mit der richtigen Förderung muss ein Mensch mit Legasthenie nicht zwangsläufig sein Leben lang ein Loser sein. Selbst dann, wenn die schulischen Erfolge erstmal ausbleiben.

Die WHO schätzt, dass etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung Legastheniker sind. Dabei kommt die Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) in ganz unterschiedlichen Schriftsprachen vor. Auch bei dem Gebrauch asiatischer Schriften, in denen die Bedeutung der einzelnen Sprachausdrücke durch grafische Zeichen wiedergegeben wird, kann es zu ungewollten Abweichungen von der Norm kommen. Zu den Symptomen gehören Probleme beim Abschreiben von der Tafel oder dem Niederschreiben von Gehörtem (etwa in Diktaten) oder die Verwechslung ähnlicher Wörter oder Buchstaben (wie b und d oder g und k). Ein und dasselbe Wort kann in einem Text mehrfach und auf unterschiedliche Weise falsch geschrieben werden. Mit einher geht ein sehr langsames und fehlerhaftes Lesen. Daher sacken betroffene Schüler*innen nicht nur in Deutsch oder den Fremdsprachen ab, sondern haben auch Schwierigkeiten, Textaufgaben in Mathematik oder anderen Fächern zu lösen.

Krankhaft, weil sie nicht der Norm entsprechen?

Nach dem internationalen Klassifikationsschema ICD-10 ist eine umschriebene Lese- und Rechtschreibstörung vorhanden, wenn „anhaltende und eindeutige Schwächen im Bereich der Lese- und Rechtschreibung nicht auf das Entwicklungsalter, eine unterdurchschnittliche Intelligenz, fehlende Beschulung, psychische Erkrankungen oder Hirnschädigungen zurückzuführen sind“, heißt es auf der Homepage des Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie. Als Ursache wird eine Kombination von genetischen, neurobiologischen und neurophysiologischen Faktoren vermutet. Die Diagnose wird durch Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mittels eines standardisierten Testverfahrens gestellt.

Einerseits ist die Diagnose für viele Betroffene eine Erleichterung. Viele fühlen sich als Versager oder werden für dumm gehalten, bevor sie von ihrer Krankheit wissen. Das Vorurteil, dass Legasthenie etwas mit mangelnder Intelligenz zu tun habe, ist leider noch weit verbreitet. Andererseits stellt die Bezeichnung „Lese- und Rechtschreib-Störung“ es ja auch fast so dar, als stimme mit diesen Menschen etwas nicht so ganz.

Folgender Fakt erhärtet die These, dass Betroffene hier über die Maßen pathologisiert werden: Obwohl die LRS zu den psychischen Erkrankungen im ICD-10 und DSM IV (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) gehört, ist sie bis heute nicht als Erkrankung im Sinne des Sozialgesetzbuches V anerkannt. Dies hat zur Folge, dass die Finanzierung der Behandlung der Lese- und Rechtschreibstörung auch nicht als kassenärztliche Leistung erfolgt.

Ein Teufelskreis schlechter Gefühle

Dabei ist es hilfreich, betroffenen Kindern rechtzeitig eine besondere Förderung zukommen zu lassen. Denn wenn zu lange andere Gründe wie Faulheit oder Dummheit als Ursache für das Schulversagen vermutet werden, haben die Heranwachsenden häufig mit psychosomatischen Folgeerkrankungen zu kämpfen. Kinder- und Jugendpsychiater warnen, dass Angststörungen, Depressionen oder Störungen im Sozialverhalten die Folge sein können. Versagens- und Schulangst sowie Verhaltensauffälligkeiten wie Konzentrationsmangel, Merkstörungen, mangelnder Ausdauer, Ablenkbarkeit oder Hyperaktivität könne man dann nur noch mit einer psychologischen Beratung oder einer die Lerntherapie begleitenden Psychotherapie entgegenwirken, warnen Experten.

Ein Weg aus der Sackgasse

Es empfiehlt sich, in der Therapie bei den Stärken des Schülers oder der Schülerin anzusetzen. Ein Kind, das oft einen jahrelangen Leidensweg hinter sich hat, muss erst einmal wieder Vertrauen in seine Fähigkeiten entwickeln. Neben der therapeutischen Betreuung spielen auch die Unterstützung der Eltern und der Schule eine große Rolle. Da es nicht jede*r Legastheniker*in nach Hollywood schafft oder ein eigenes Unternehmen gründet, sollte den Nachteilen im Berufsleben entgegengewirkt werden.

Ende September beginnt beispielsweise in Zittau ein Kurs der Euro Schulen Görlitz für Erwachsene, der sich an „funktionale Analphabeten“ richtet, um deren Chancen am Arbeitsmarkt zu erhöhen und ihnen den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern. Die sogenannten Legasthenie-Erlasse in den einzelnen Bundesländern sowie die Vorschriften zur Förderung von Kindern mit Dyskalkulie stellen die rechtliche Grundlage für die schulische Förderung der Betroffenen dar. Darin ist auch der Nachteilsausgleich geregelt, der den Betroffenen ermöglichen soll, trotz ihrer Beeinträchtigung gute Leistungen zu erbringen. Mit diesem Ziel werden Prüfungen so gestaltet, dass Legastheniker*innen beispielsweise Prüfungsfragen vorgelesen bekommen.

Wo Schatten ist, ist auch Licht

Wer immer nur die Defizite der Legastheniker*innen im Fokus hat, verkennt, dass die Betroffenen häufig andere Talente haben. So fand Julie Logan von der Cass Business School in London im Rahmen ihrer langjährigen Forschung über Legastheniker*innen in der Geschäftswelt heraus, dass unter Unternehmern die Legasthenikerquote um ein Vielfaches höher ist als in der üblichen Bevölkerung. Doch welche Gründe hat das? Die Studie von Julie Logan hat ergeben, dass Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche gleichzeitig in anderen Bereichen punkten: Kommunikation, Problemlösefähigkeit und Delegierung von Aufgaben sind ihre Stärken. Bereits in der Schule lernen diese Personen, mit anderen Mitschüler*innen zu kooperieren, um ihre Defizite auszugleichen. Diese Fähigkeiten machen sie zu den idealen Führungspersönlichkeiten.

Immer locker bleiben

Somit stellt sich die berechtigte Frage: Kann es sich unsere Wirtschaft leisten, talentierte Arbeitskräfte an den Rand zu drängen? Das heutige Schulsystem müsste vielmehr Schüler*innen entsprechend ihrer Talente fördern als vermeintliche Schwächen auszugleichen. Durch unsere moderne Kommunikation mit Sprachnachrichten, Emojis und Ähnlichem lassen sich Probleme mit der Rechtschreibung kompensieren. Man könnte sagen, die Welt wird ein wenig gerechter für Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben.

Vielleicht sollten wir einfach mal fünf gerade sein lassen, wenn der Kollege schreibt, dass er morgen „warscheinlich“ eine halbe Stunde später ins Büro kommt? Die Botschaft ist ohnehin klar, da müssen wir nicht den Oberlehrer oder die Oberlehrerin spielen. Auch der Einkaufszettel meines Opas erheiterte mich vor einigen Jahren. Ganz oben auf der Liste standen nämlich: die „Sexkornbrötchen“. Und schließlich sollte man auch als Betroffener seine „Störung“ mit Humor nehmen. Sollten Sie, liebe*r Leser*in, Legastheniker*in sein – beenden Sie Ihre nächste Schularbeit, Präsentation oder E-Mail doch einfach mit den Worten: „Wer einen Rechtschreibfehler findet, darf ihn behalten.“ Man wird es Ihnen nicht übelnehmen.

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.