Wabi Sabi – das Unvollkommene lieben, die Vergänglichkeit akzeptieren

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Vielleicht sind Sie in der letzten Zeit schon einmal über den Begriff Wabi Sabi gestolpert? Wir lesen ihn immer häufiger in Wohnratgebern, Architekturzeitschriften und auf Lifestyle-Blogs. Hinter dem japanischen Konzept verbirgt sich aber mehr als die Idee, Häuser hübsch einzurichten. Es geht vielmehr um eine Art Lebensphilosophie, die völlig konträr zu unseren westlichen Vorstellungen von Schönheit und Perfektion ist.

Neulich ist etwas Furchtbares passiert. Etwas ist zu Bruch gegangen. Es war nicht meine Beziehung, gottlob, aber es fühlte sich irgendwie ein bisschen so an. Denn es war die heilige Porzellantasse, aus der mein Freund jeden Sonntag seinen Kaffee trank. Unsere beiden Porzellangedecke, bestehend aus Kaffeetasse, Unterteller und einem Kuchenteller, hatte ich vor einigen Jahren von einem Trödelmarkt mit nach Hause genommen und in den Keller gestellt. Dort warteten sie geduldig darauf, dass ich irgendwann den passenden Mann nach Hause bringen würde, der es wert ist, das edle Sonntagsgedeck hervorzukramen. Dann kam er, der perfekte Mann, und einige Wochen ging das ganz gut mit dem feinen Porzellan. Bis zum letzten Sonntag: Ein unachtsamer Moment beim Abspülen und seine Tasse glitt ihm aus der Hand. Resultat: siehe oben.

Nichts hält für die Ewigkeit

Man könnte nun hysterisch heulen, stumm leiden oder wild auf dem Boden stampfen. All das bringt die Tasse in seiner ursprünglichen Form nicht mehr zurück. Deshalb habe ich es mit Wabi Sabi probiert. Diese japanische Lehre stellt die Imperfektion des Lebens, die Einzigartigkeit, die durch Makel entsteht, sowie die Flüchtigkeit des Moments in den Mittelpunkt. Ebenso wie wir Menschen nicht ewig leben, ist auch das Leben der Porzellantasse begrenzt. So wie die knorrige Kiefer irgendwann vom Sturm niedergedrückt oder vom Borkenkäfer zerfressen wird, wird auch das Reh irgendwann in die ewigen Jagdgründe springen. Menschen, die im Pflegebereich arbeiten, ist die eigene Endlichkeit sicherlich präsenter als anderen.

Krisen und Brüche

Doch die Vergänglichkeit von Personen und Objekten macht sich nicht erst in der Stunde des Todes bemerkbar. Moos auf dem Hausdach, kleine rostige Stellen an der Teekanne aus Emaille, tiefe Furchen in der Stirn des Bergbauern – all das ist Wabi Sabi. Das Leben ist Veränderung, es hinterlässt unweigerlich seine Spuren und Schichten. Manche bezeichnen diese auch als Patina. In dem Theaterstück „Educating Rita“ von William Martin Russell vergleicht die Protagonistin Rita das Zimmer ihres Professors Frank, das über die Jahre eine gewisse Ausstrahlung entwickelt hat, mit dem Gesicht eines Menschen, das im Laufe des Lebens auch eine „gewisse Patina“ erhält. Sie stellt fest, dass diese Sichtweise fast ein wenig romantisch sein kann.

Persönliche Krisen, Krankheiten, Entbehrung oder auch Völlerei lassen sich im menschlichen Gesicht ablesen. Sie sind Teil des Menschen und machen ihn aus. Die meisten Menschen entwickeln in Krisen Resilienz, das heißt, sie gehen gestärkt daraus hervor. Analog zur Resilienz beim Menschen lassen sich auch kaputte Objekte kitten. Die Reparaturmethode namens Kintsugi kommt ebenfalls aus Japan. Dabei werden Brüche oder gar fehlende Stücke im Porzellan mit einem Lack geklebt und anschließend mit Gold bestreut, das die Risse hervorhebt. Der Fehler wird also nicht unsichtbar gemacht, sondern bewusst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt.

Kintsugi für den Alltag

Kann man die Prinzipien des Wabi Sabi und des Kintsugi auch auf das Berufsleben übertragen? Durchaus, denn auch in Teams kann es zu Brüchen kommen. Wichtig ist es, die Differenzen anzusprechen und aus dem Weg zu räumen. Oft trägt ein reinigender Sturm dazu bei, dass hinterher alle klarer sehen. Denn auch ein klärendes Gespräch kann wie Goldstaub wirken und das Team enger „zusammenschweißen“.

Die Tassen-Krise hat auch meinen Freund und mich enger zusammengeschweißt. Wir haben gemeinsam um das zerbrochene Porzellan getrauert. Dann hat er die Scherben zusammengeklebt und wir haben Goldlack besorgt, um die Tasse zu kitten. Genauso werden wir es auch mit unserer Beziehung handhaben: Wenn wir vor einem emotionalen Scherbenhaufen stehen, werden wir diesen nicht einfach achtlos in den Mülleimer befördern, sondern kleben, Goldpuder drüberstreuen und uns gemeinsam am neuen Glanz erfreuen.

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.