Haben Anstand und Höflichkeit noch Konjunktur?

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Schon die Wortwahl in der Überschrift lässt es vermuten: Genauso wie die Redewendung „Konjunktur haben“ sind auch die Tugenden „Anstand“ und „Höflichkeit“ etwas in die Jahre gekommen. Es gibt einige Anzeichen, die darauf hindeuten, dass vielerorts – etwa in der virtuellen Welt – kaum noch Wert auf ein höfliches Verhalten gelegt wird. Dennoch dient Anstand anderswo als Türöffner. Wir haben eine Bestandsaufnahme gewagt.

„Anstand“ – das klingt wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Es klingt nach 1950er Jahre, Wirtschaftsaufschwung, Kostüm und Anzug, artigen Kindern mit sauberen Fingernägeln, die von der Mutter und Hausfrau erzogen werden und immer freundlich grüßen. Im Kontrast dazu gibt es heute prekäre Arbeitsverhältnisse, Menschen, die in ausgebeulten Jogginghosen an der Supermarktschlange Fertiggerichte aufs Band legen, und Shitstorms in den „sozialen“ Medien.

Was wollte Knigge uns sagen?

Viele Menschen assoziieren „Anstand“ sofort mit Adolph Freiherr von Knigge. In seinem Bestseller „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788 geht es aber keineswegs um Tischsitten, Tür aufhalten und wie man das Silberbesteck auf einer festlichen Tafel arrangiert – obwohl das die meisten vermuten. Vielmehr setzt sich Knigge auf soziologische Weise mit den Spielregeln innerhalb einer Gesellschaft auseinander. Er beleuchtet, wie Familienmitglieder miteinander umgehen sollten, auf welche Art Eheleute am besten miteinander auskommen, was im Umgang zwischen Herren und Dienern zu beachten ist und weitere zwischenmenschliche Beziehungen.

Der Anstand in schwierigen Zeiten

Möglich, dass man sich vor fast zweieinhalb Jahrhunderten mehr Gedanken darüber machte, wie man sich im Zusammenleben mit seinen Mitmenschen anständig verhält. Im Jahre 2020 scheint es, als würde das kaum mehr jemanden kümmern. Der Kolumnist der Süddeutschen Zeitung Axel Hacke, der 2017 das Buch „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ veröffentlicht hat, attestiert den heutigen westlichen Gesellschaften die „Tendenz zu einer gewissen Verrohung“. Im Interview mit dem Literatur- und Kulturmagazin Buchszene appelliert er an den „Anstand als einen grundlegenden Respekt gegenüber anderen Menschen“, der „Werte wie Fairness, Wohlwollen, Interesse“ einschließt.

Troll Dich!

Der allgemein raue Ton oder gar wüste Beschimpfungen in Internetforen zeugen nicht gerade von Interesse am Gegenüber. An einer sachlichen Diskussion, die auf Argumenten beruht, ist kaum mehr jemand interessiert. Auch auf die Gefühle der Mitmenschen wird keine Rücksicht genommen. Sogenannte Trolle legen sich Fake-Accounts an mit dem einzigen Ziel, andere Chatteilnehmer*innen zu provozieren und zu beschimpfen. Dass Lüge, Niedertracht und Rassismus nicht nur im Netz, sondern auch in der realen Welt salonfähig geworden sind, zeigt sich laut Axel Hacke auch anhand der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Für Hacke ist er der Inbegriff des „Unanständigen“, eine durch und durch unmoralische Person. Wenn so jemand es an die Spitze einer Weltmacht schafft, muss es schlecht um unsere Welt bestellt sein.

Die Bedeutung von Anstand im Beruf

Doch nicht jedes „Trumpeltier“ hat so viel Erfolg im Berufsleben. In den meisten Berufen ist Anstand immer noch gefragt. Er dient als sozialer Schmierstoff und ist wichtig sowohl für das Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft als auch innerhalb des kollegialen Gefüges am Arbeitsplatz. Egoist*innen und Ellenbogenkämpfer*innen schaffen es auf der Karriereleiter selten nach oben. Vom arbeitgebenden Unternehmen sind Attribute wie Loyalität, Professionalität und kollegiales Verhalten gewünscht. Gerade wenn man neu im Unternehmen ist, sollte man die hausinternen Umgangsformen herausfinden und sich an diese – oft informellen – Regeln halten. Dazu gehört etwa, vor dem Eintreten in ein fremdes Büro anzuklopfen, pünktlich zu Meetings zu erscheinen oder sich nicht über eine vorherrschende „Siezen“-Regel hinwegzusetzen. Weitere Benimmregeln fürs Büro finden sich in unserem Artikel zum Business-Knigge.

Dienst am Nächsten

Besonders gefragt sind Anstand und Höflichkeit bei Berufen im medizinischen oder pflegerischen Bereich. In pädagogischen Berufen sollte man nicht nur selbst freundlich auftreten, sondern auch Schutzbefohlenen das nötige Maß an Anstand beibringen und vorleben. Denn die Kinder und Jugendlichen sind unsere Gesellschaft von morgen. Um diese jungen Menschen für Werte wie Anstand und Altruismus zu sensibilisieren, fordern einige die Einführung eines verpflichtenden Sozialdienstes, ähnlich dem Wehr- bzw. Zivildienstmodells, das 2011 abgeschafft wurde. Tatsächlich wäre dies eine Möglichkeit, dass junge Bürger*innen für die Gesellschaft etwas leisten, ohne dadurch unmittelbar einen eigenen Nutzen zu haben. Solange es einen derartigen Gemeinschaftsdienst in Deutschland nicht gibt, können Menschen jeden Alters auch in Freiwilligenorganisationen ihre ehrenamtliche Arbeit ausüben. Ein Beispiel für eine solche Organisation ist Service Civil International, die aus der Friedensbewegung entstanden sind. In zwei- bis dreiwöchigen Workcamps unterstützen die Teilnehmer*innen soziale, ökologische oder kulturelle Projekte. Dort treffen sie auf andere internationale Freiwillige. Eine tolle Übungswiese also, um Rassismus abzubauen und ein friedliches Miteinander zu fördern. Derartige Projekte sind ein wahres Plädoyer für mehr „Wir“.

In diesem Sinne: Bleiben Sie anständig!

Bildquelle Beitragsbild: © Lemberg Vector studio/shutterstock.com

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Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.