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12.04.2017

„Euch trifft keine Schuld, aber ihr tragt Verantwortung“

Im Dialog mit dem Auschwitz-Überlebenden Justin Sonder

Sein Name ist Justin. Das mag im ersten Augenblick an den jungen Popstar aus Kanada erinnern, der stets  für Furore sorgt und die Leichtigkeit des Seins genießt.
Der Justin, der am 6. April 2017 an der Euro Akademie Chemnitz begrüßt werden konnte, ist jedoch 92 Jahre alt, seine Jugend war geprägt von unsäglichem Leid und an der englischen Aussprache seines Namens liegt ihm nichts, aber er hat sich daran gewöhnt. Seine Haut mag faltig sein, seine blauen Augen jedoch blicken fest und klar in die Runde der vor ihm sitzenden Berufsschüler.

Justin Sonder überlebte zwei Jahre Gefangenschaft im KZ Auschwitz und damit 17 Selektionen. Seit den 90er-Jahren hat er es sich zur Aufgabe gemacht, von seinem Überleben als Gefangener vor Schülern zu berichten. Er berührt die jungen Seelen, bei einigen fließen Tränen. Er erzählt seine Geschichte, aber es ist gleichzeitig die von sechs Millionen ermordeten Menschen.

„Nur jammern wollte ich auch nicht, das habe ich mein ganzes Leben lang nicht gemacht. Anfangs habe ich mich schwer getan. Darüber zu sprechen, wühlt alles auf. Aber solange ich es machen kann, mache ich es.

"Man muss Paroli bieten"

Die Asche von Auschwitz war noch nicht getrocknet, da flog die erste Bombe in Hiroshima. Momentan gibt es 30 Kriege auf der Welt. Was hat die Menschheit daraus gelernt? Bei meiner Befreiung war ich 19 Jahre jung und hätte es nicht für möglich gehalten, noch einmal Hakenkreuze an Wänden zu sehen. Nun bin ich 92 und habe das Gefühl, etwas vor und für die Jugend zu tun. Alle die hier sitzen trifft keine Schuld, aber wir verlangen, Verantwortung zu übernehmen“, appelliert Sonder an die jungen Menschen und setzt nach: „Die Sprache der Rechten ist verräterisch. Man muss Paroli bieten und das fängt im Klassenverband an.“

1925 kam Justin Sonder in Chemnitz als Kind einer „normalen deutschen“ Familie zur Welt. Sein Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland und wurde mit dem Eisernen Kreuz dekoriert. Das verlor mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten an Wert. Sonder erlebte schon als Kind Antisemitismus in der Schule, ab 1938 muss er den Zusatznamen Israel tragen.
Es folgten körperliche Attacken, Zwangsarbeit und die Verhaftung der Eltern. Im Februar 1943 wurde auch Justin Sonder nach Auschwitz deportiert. Sonder überlebt das KZ und den Todesmarsch nach Flossenbürg.

Doch was heißt es, Auschwitz zu überleben?

„Man hat mich nach dem Krieg vor Gericht gebeten, zu schildern, was eine Selektion ist. Ich sagte, ich bin der deutschen Sprache nicht mächtig genug, um zu beschreiben, was es bedeutet, über Leben und Tod in ein paar Schritten zu entscheiden“, formuliert  Sonder die Ohnmacht dieser Schreckenszeit. In einem Video-Mitschnitt eines Vortrages von Justin Sonder erfahren die Auszubildenden sehr wohl, was es bedeutet, von SS-Leuten selektiert zu werden:
Aller fünf bis sechs Wochen hieß es im Lager zwischen 5 Uhr und 6 Uhr morgens: „Selektion!“ – Nackt ausziehen und warten, bis der SS-Arzt kam. Die Häftlinge mussten einzeln vorbei defilieren. Max, ein Funktionshäftling aus Chemnitz, hatte dem ebenfalls aus Chemnitz stammenden Sonder bereits bei der Ankunft in Auschwitz nicht nur seinen Westover gegeben, der ihn vor der eisigen Kälte im dünnen Sträflingsanzug schützte, sondern ihm für die Selektionen folgendes geschildert hat: „Du musst immer so laufen, als ob du kräftig bist. Laufe immer hinter jemandem, der schlechter aussieht.“ Und dafür quält ihn Jahrzehnte später noch das schlechte Gewissen.

Lagerselektionen waren während der Kriegsjahre in allen Konzentrationslagern üblich. Häftlinge, die schwächlich aussahen oder im überfüllten Lager als überflüssig galten, wurden regelmäßig ausgesondert und getötet.
Andere Häftlinge bemühten sich, gerade den Jüngeren Halt zu geben und sorgten für eine Zusammenführung zwischen dem damals 17-Jährigen und seinem Vater. Dieser sagte bei ihrem Aufeinandertreffen: Man hat deine Mutter ermordet. „Das war das einzige Mal, dass ich während der Gefangenschaft geweint habe.“

Seine Disziplin und sein Wille durchzuhalten, haben ihm geholfen

Ob er ein einziges Mal an Selbstmord gedacht hat? „Nein“, antwortet Sonder bestimmt. „Der Freiheitsgedanke überwog.“ Er verstand polnisch und deutsch, im Gegensatz zu anderen Gefangenen. Seine Disziplin und der extreme Wille durchzuhalten, sind Charaktereigenschaften, die ihm geholfen haben mögen. Sein entzündetes Knie öffnete SS-Arzt Fischer ohne Narkose. „Es ist interessant, was der Mensch aushalten kann“, so seine Erkenntnis. Am Tag nach der OP gab es eine Selektion. Glück spielte dabei ebenso eine Rolle. Ein Arzt namens Großmann strich ihn von der Liste. Sein gequetschter Daumen wurde ein anderes Mal experimentell mit Alaunstein behandelt. „Es war viehisch. Nach meinem Dienst habe ich etwa zwei Stunden vor Schmerz geschrien.“

Einmal hatte er sich falsch verhalten und bekam dafür „25 übern Nackten“ – Peitschenhiebe, die man ohne zu schreien mitzählen musste. Wer schrie bekam noch mehr. „Ich habe es ohne Mucks ertragen. Der SS-Mann fragte mich, wo ich herkomme. Dass ich Deutscher bin, durfte ich nicht sagen. So antwortete ich, in Deutschland geboren zu sein. Dafür bekam ich am Abend einen Schlag „mehr Fressen“ – das war die Ausdrucksweise. Immerhin, mehr als andere. Auschwitz war das einzige Konzentrationslager, in dem man die Häftlinge tätowierte. Wer eine Nummer bekam, durfte vorläufig weiterleben – Hunderttausende kamen sofort in die Gaskammern. Seinen Kindern erzählte er früher, dass er sich seine Telefon-Nummer nicht merken konnte und sie deswegen auf den Arm tätowierte. Wollte er sie nie entfernen lassen? „Nein. Das habe ich nie in Betracht gezogen. Es ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl erster Qualität und ich habe in meinem Leben immer wieder Leidensgenossen getroffen.“

Am 23. April 1945 endlich frei

Seine Befreiung durch amerikanische Soldaten erlebt Justin Sonder nach mehreren Todesmärschen am 23. April 1945 in einem Dorf in Franken. Zusammen mit seinem Vater kehrt er heim nach Chemnitz : „Ich bin nicht religiös, aber wir haben uns in der Widerstandsgruppe des Lagers geschworen, wenn wir überleben, wollen wir zu einem besseren Deutschland beitragen und das haben alle durchgehalten.“ Einige der Überlebenden studierten und promovierten. Er selbst ist Diplom-Jurist, wurde durch seine energische und beharrliche Art erst zur Polizei, dann zur Kripo beordert und arbeitete als Kriminalbeamter der ehemaligen DDR.

Die Verfolgung der Mörder in Weiß war völlig unzureichend

Das Verbrechen an 300.000 zumeist jungen Menschen, genannt Aktion T4, spielt in Sonders Schulvorträgen eine große Rolle. Er beschreibt, wie der Maler Max Liebermann aus seiner Villa in der Berliner Tiergartenstraße mit der Hausnummer 4, kurz genannt „T 4“ rausgeschmissen wurde und Pseudowissenschaftler einzogen. Kinder mit Behinderungen kamen alle in eine geschlossene Anstalt. Die Familien erhielten 14 Tage später ein Telegramm, dass das Kind an Lungenentzündung gestorben sei … Hitler selbst gab das Ermordungsprogramm in Auftrag. Die Nazis bezeichneten es auch als Euthanasie – eine zynische Entfremdung des Wortes, das eigentlich einen leichten und schönen Tod meint. Was Justin Sonder bis heute umtreibt: „Die Verfolgung der Mörder in Weiß war sowohl in der BRD als auch in der DDR völlig unzureichend. Jetzt ist es zu spät. Sie leben nicht mehr.“

"Erinnerung bewahren" als Lebensaufgabe

Abschließend sagt Sonder, dass er sehr gern Bertolt Brecht zitiert. Denn das ist die Warnung, die er in seinen Vorträgen gibt: „Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden.“
Nach dem Zeitzeugengespräch lässt Verona Schinkitz, eine Pädagogin, die Sonder seit vielen Jahren bei den Vorträgen begleitet, alle Schüler einen kleinen Fragebogen ausfüllen. Das wichtigste Ergebnis in all den Jahren: Die Frage "Hast du in der Familie oder im Freundeskreis von dem Vortrag erzählt?" beantworten 95 Prozent der Schüler mit ja. "Erinnerung bewahren", das habe sich Justin Sonder zur Lebensaufgabe gemacht.

Justin Sonder wird am 21. April 2017 mit der Ehrenbürgerschaft der Stadt Chemnitz ausgezeichnet und damit für die Aufarbeitung von Verbrechen des Nationalsozialismus gewürdigt.


Hinweis zur Gender-Formulierung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text nur die männliche Form. Bei allen personenbezogenen Bezeichnungen meint die gewählte Formulierung stets beide Geschlechter.

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