Schätzungsweise acht Millionen Kinder wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Anweisung von Ärzt*innen in Kindererholungsheime verschickt. Was viele dort erleben mussten, prägt, belastet und verfolgt sie bis heute.
Mit ihrem Buch „Die Akte Verschickungskinder“ will die Journalistin Hilke Lorenz auf das Schicksal von schätzungsweise acht Millionen Kindern aufmerksam machen, die zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren in sogenannte Kindererholungsheime geschickt wurden. Diese, etwa 800, „Kurheime“ an der See oder in den Bergen sollten eigentlich der Erholung und körperlichen Gesundung der Kinder dienen, nicht selten kamen diese aber traumatisiert aus den Ferien zurück.
Seelischer und körperlicher Missbrauch
Dem Heimaufenthalt ging in der Regel eine Untersuchung durch den Haus- oder Kinderarzt voraus, bei welchem die Halbgottheiten in Weiß konstatierten, dass es medizinische Gründe gebe, weshalb der junge Mensch von seiner Familie getrennt, an einem fremden Ort genesen müsse. Was das Kind dort erwartete, war nicht schön. Als sei die Trennung von den Bezugspersonen nicht schon schlimm genug, wurden Geschwisterkinder bei Ankunft im Heim voneinander separiert. Außerdem wurde peinlichst darauf geachtet, dass sich zwischen den Kindern keine Freundschaften entwickelten, die ihnen das Heimweh hätten erleichtern können. Von dieser „Beziehungslosigkeit“ berichtet beispielsweise Reinhard, den man 1985 mit elf Jahren nach Borkum verschickt hat, in Kapitel 6 von „Die Akte Verschickungskinder“. Post aus der Heimat wurde den Kleinen systematisch vorenthalten. Um gegenüber den Erziehungsberechtigten dennoch den Eindruck zu erwecken, dass ihre Kinder eine tolle Zeit erlebten, wurden diese gezwungen, vorformulierte Texte von der Tafel auf Postkarten abzuschreiben, die dann an die Eltern gesendet wurden. Aufgedeckt wurde mittlerweile auch die häufig vorgekommene Medikamentengabe ohne medizinische Indikation. Dabei blieb es nicht nur bei der Sedierung durch bestimmte Mittelchen im Abendtee. Auch von der Gabe von Contergan gegen den Trennungsschmerz ist die Rede. Neben den seelischen Qualen gab es auch körperliche Strafen – so wurde man etwa gezwungen, den Teller leer zu essen, auch wenn man längst satt war oder das Essen nicht mochte. Einige Verschickungskinder, die heute schon längst erwachsen sind, erinnern sich sogar daran, dass, wenn der Ekel sie erbrechen ließ, sie das Erbrochene aufessen mussten.
Ein rentabler Skandal
Doch wie konnte es zu diesen seelischen und körperlichen Misshandlungen von Schutzbefohlenen kommen? Sicherlich lässt sich der eine Grund dafür nicht finden, es ist vielmehr ein Zusammentreffen mehrerer unglücklicher Umstände, die sowohl historischer Natur als auch durch wirtschaftliche Interessen begründet waren.
Zum einen schloss sich die Kinderheimverschickung nahezu nahtlos an die Diktatur des NS-Regimes an. Die NS-Ideologie vertrat noch die Ansicht, das Brechen des kindlichen Eigenwillens würde als Schlüssel zur Entwicklung des sozial gut integrierten Erwachsenen beitragen. Nun wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht alle Heimleiter*innen und Erzieher*innen ausgetauscht. Diese personelle Kontinuität ließ die autoritären Erziehungsmethoden im Nachkriegsdeutschland einfach weiterleben. Als Schwächere in einem Machtgefüge wurde den Kindern das Gefühl gegeben, den anderen, Stärkeren hilflos ausgeliefert zu sein.
Ein weiterer Grund dafür, weshalb niemand von staatlicher Stelle daran interessiert war, die Missstände aufzudecken, ist ein wirklich trauriger – denn hier wurde finanzieller Profit über das Kindeswohl gestellt. Die Kinderkuren waren – profan ausgedrückt – lediglich eine Sparte der Gesundheitsfürsorgeindustrie. Mitte der 1970er-Jahre wurden Kinderärzt*innen dazu angehalten, zur Auslastung von Kinderheimen beizutragen, indem sie den oftmals gesunden Kindern eine Erholung verordneten. Die einzigen, die daran gesundeten, waren die maroden Erholungsheime. In ihrem preisgekrönten Artikel in der Stuttgarter Zeitung mit dem doppeldeutigen Titel „Ausgeliefert“ berichtet Hilke Lorenz im November 2019 über das Schicksal eines Verschickungskindes und weist darin auch auf mangelnde Auslastung des betroffenen Heimes hin, für die man im Ludwigsburger Staatsarchiv etliche Belege findet. Während die Kinder litten, profitierten die Kinderärzte von finanziellen Anreizen. Auch staatliche Stellen, Jugend- und Gesundheitsämter, Sozialversicherungsträger sowie gemeinnützige und private Träger waren in diesen Skandal verwickelt.
Grausame Folgen für die Betroffenen
Die Betroffenen leiden teilweise bis heute unter den Aufenthalten in den Kinderheimen – unter psychischen Spätfolgen, Essstörungen und Traumatisierungen. Die jungen und jüngsten Heranwachsenden – manche kaum zwei Jahre alt – verloren auf einen Schlag die vertraute Umgebung, die Familie und ihre Freund*innen. Etliche erkannten nach den langen Wochen in der Fremde ihre Eltern (sprich: die engsten Bezugspersonen) nicht mehr. Sie erfuhren ein sogenanntes Trennungstrauma. Auf die Unterbrechung der elterlichen Fürsorge reagierten Sie mit Unverständnis und fragten sich: „Wer sorgt jetzt für mich?“. Das Verhältnis zu den Eltern war durch diesen vermeintlichen „Vertrauensbruch“ nachhaltig gestört.
Langsame Aufarbeitung
Lange litten ehemalige Verschickungskinder in Stille. Und viele dachten, ihr Schicksal sei ein Einzelfall. Dass dahinter jedoch Methode steckte, wird erst nach und nach sichtbar. Nennenswert für die Aufarbeitung des Skandals um die Verschickungskinder ist der Radiobeitrag von Lina Gilhaus, einer Journalistin des Deutschlandfunks. Ihre Reportage von 2017 brachte den Stein des öffentlichen Interesses ins Rollen. Die Publizistin Anja Röhl hatte zuvor bereits 2009 in einem Artikel in der Jungen Welt ihre persönlichen Erfahrungen in einem Heim auf der Nordseeinsel Föhr geschildert. Sie betreibt auch die Webseite www.verschickungsheime.de und unterstützt unter anderem dadurch die Vernetzung der Betroffenen und die Aufarbeitung des bislang unerzählten Kapitels der deutschen Nachkriegsgeschichte. Außerdem organisierte Röhl 2019 ein Treffen ehemaliger Verschickungskinder auf Sylt.
Neuerscheinung zum Thema
Im Buch „Die Akte Verschickungskinder – Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden“, das Ende Januar 2021 bei Beltz erschienen ist, lässt die Journalistin Hilke Lorenz viele ehemalige Verschickungskinder zu Wort kommen und geht ihren Hinweisen nach. Prädikat: Lesenswert.

304 Seiten
ISBN: 978-3-407-86655-4
Erschienen: 22.01.2021
Bildquelle Beitragsbild: ©Kittyfly/shutterstock.com