Gendermedizin: Werden Frauen schlechter behandelt?

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Frauen und Männer sind – biologisch gesehen – nicht gleich. Sie unterscheiden sich ganz offensichtlich, zum Beispiel bei der Körperform und den Geschlechtsorganen. Oft sind Unterschiede aber gar nicht mit bloßem Auge erkennbar: Viele Organe sind bei Frauen zum Beispiel anders gebaut als bei Männern. Werden Frauen deshalb anders krank als Männer? Und müssen sie anders therapiert werden? Ja! Denn genau wie es noch immer einen Gender-Pay-Gap gibt, existiert auch ein Gender-Health-Gap. Damit befasst sich ein relativ neuer Zweig der Medizin, die Gendermedizin. 

Achtung: In diesem Beitrag soll es um die unterschiedliche medizinische Behandlung von Cis-Frauen und Cis-Männern gehen. Die Ungleichbehandlung von nichtbinären und transsexuellen Menschen im medizinischen Kontext ist auch einen Beitrag wert, sprengt aber den Rahmen dieses Artikels. 

Frauen erkranken anders

Sicher fallen Ihnen spontan einige Krankheiten ein, die nur Frauen betreffen. Endometriose zum Beispiel oder Gebärmutterhalskrebs. Daneben gibt es viele „frauentypische“ Beschwerden. Osteoporose beispielsweise betrifft Frauen viermal häufiger als Männer – was ebenso dazu führen kann, dass die „Frauenkrankheit“ Knochenschwund bei einem Mann nicht erkannt wird. Auch Multiple Sklerose, Fibromyalgie und Alzheimer sind Erkrankungen, die bei Frauen viel häufiger vorkommen. Warum es diese geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt? Dazu gibt es zwar Ansätze, Hypothesen und Studien, geklärt sind die Ursachen aber noch lange nicht. 

Viele Erkrankungen treten auch bei beiden Geschlechtern ähnlich häufig auf, äußern sich aber unterschiedlich. Ein gut untersuchtes Beispiel ist der Herzinfarkt, der sich bei Frauen weniger durch Brustschmerzen und mehr durch Bauchschmerzen und Übelkeit zeigt – häufig werden diese Symptome zunächst mit einer simplen Magenverstimmung verwechselt. „Viele Herzinfarkt-Todesfälle bei Frauen ließen sich vermeiden, würden die Herzinfarkt-Symptome richtig gedeutet – und so wertvolle Zeit gewonnen“, so Prof. Dr. med. Christiane Tiefenbacher vom Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung.  

Männer erkranken anders 

Umgekehrt gibt es natürlich auch Krankheiten, die bei Männern oft nicht oder zu spät erkannt werden. Häufig handelt es sich dabei um psychische Erkrankungen. Depressionen beispielsweise zeigen sich bei Männern vermehrt durch „untypische“ Symptomen wie erhöhter Aggression, Risikobereitschaft und Suchtverhalten. Auch die körperlichen Beschwerden einer Depression wie Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme oder sexuelle Störungen stehen bei Männern eher im Vordergrund. Daher beginnen sie auch seltener eine Therapie. „Im Gegensatz zu Frauen suchen Männer jedoch deutlich seltener und weniger intensiv Hilfe, weil sie Störungen ihres seelischen oder körperlichen Wohlbefindens häufig auf Stress und berufliche Belastungen zurückführen. Eine psychische Erkrankung ziehen sie eher nicht in Betracht“, beschreibt die Ärztin Dr. Astrid Maroß das Problem. 

Insgesamt achten Frauen mehr auf die Signale ihres Körpers und entdecken mögliche Krankheiten früher. Sie gehen häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen, ernähren sich gesünder, trinken weniger Alkohol und rauchen seltener als Männer. Das sind einige der Gründe, warum die Lebenserwartung von Frauen mit 83,4 Jahren höher liegt als die der Männer, die in Deutschland durchschnittlich nur ein Alter von 78,4 Jahren erreichen. 

Medikamente wirken bei Frauen anders 

Frauen sind durchschnittlich kleiner und leichter als Männer, haben aber einen höheren Körperfettanteil. Diese Geschlechtsunterschiede müssen bei der Dosierung von Medikamenten berücksichtigt werden. Doch nicht nur das: Eine Tablette braucht für den Weg durch den Körper einer Frau ungefähr doppelt so lang.  Auch die Geschlechtshormone und die Stoffwechselenzyme unterscheiden sich, was dazu führt, dass der Abbau der Wirkstoffe in der Leber bei Frauen länger dauert. Frauen benötigen also meistens eine geringere Dosis eines Medikaments als Männer – bei Betablockern genügt ihnen zum Beispiel oft nur die halbe Dosis.  

Männliche Mäuse und männliche Menschen 

Wir sehen also: Frauen und Männer unterscheiden sich in Bezug auf Erkrankungen, Krankheitssymptome und Behandlung ganz deutlich. Trotzdem war die medizinische Forschung lange vor allem eins – männlich. In Medikamentenstudien werden die Wirkstoffe vor der Zulassung an Freiwilligen getestet – meistens an jungen, männlichen Freiwilligen. Diese „jungen weißen Männer“ haben für die Forscher*innen einige Vorteile: Sie werden nicht schwanger und unterliegen weniger Hormonschwankungen durch Zyklus, Wechseljahre oder der Einnahme von Verhütungsmitteln. Damit sind die Ergebnisse vergleichbarer, andere Einflüsse leichter zu kontrollieren. Das gilt sogar für die Mäuse, an denen die Medikamente vorher getestet werden. Auch in den Tierversuchen wählen die Forscher*innen fast nur männliche Mäuse, um die Ergebnisse nicht durch den weiblichen Zyklus zu beeinflussen – obwohl genau dieser Einfluss doch relevant sein kann. 

Historisch spielt auch der Contergan-Skandal der 1960er eine Rolle bei der Auswahl der Proband*innen. Damals kamen viele Kinder mit fehlenden oder fehlgebildeten Gliedmaßen zur Welt, nachdem ihre Mütter während der Schwangerschaft das neuartige und vermeintlich ungefährliche Schlafmittel Contergan einnahmen. Um das ungeborene Leben zu schützen, sollten Frauen nach diesem tragischen Fall vorsorglich nicht mehr an Medikamentenstudien teilnehmen. Ein Umdenken fand erst in den 1990er-Jahren statt. Seit 1994 müssen Medikamente in den USA auch an Probandinnen getestet werden, seit 2004 schreibt das deutsche Arzneimittelgesetz die Prüfung eventueller Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Zulassung von Medikamenten vor. Doch ausgeglichen ist das Verhältnis von männlichen und weiblichen Proband*innen in den Studien selten. Oft werden Frauen auch nur in klinischen Studien eingeschlossen, wenn sie doppelt verhüten – Daten über Frauen, die keine Verhütungsmittel verwenden, fehlen also.  

Gendermedizin nutzt allen Geschlechtern 

Gendermedizin ist keine Frauenmedizin. Sie möchte vielmehr die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Medizin erforschen und die Ergebnisse in Prävention und Behandlung umsetzen – und davon profitieren alle Geschlechter. In Deutschland ist die Charité in Berlin Vorreiterin der Geschlechterforschung in der Medizin. Auch die München Klinik entwickelt derzeit ein in Konzept für die geschlechterangepasste Versorgung

Vielleicht steuern wir ja auf eine Zukunft zu, in der die medizinische Forschung bunt besetzt ist – mit männlichen und weiblichen, jungen und alten, dicken und dünnen Proband*innen. Damit jede*r die personalisierte und evidenzbasierte Therapie erhalten kann, die er*sie verdient.

Bildquelle Beitragsbild: Larisa Rudenko/shutterstock.com

Autor

Anna Rüppel

Anna Rüppel ist mit 1,78 m die Größte, wenn es um Ausbildung und Beruf geht. Als Kind war sie kleiner. Von April 2019 bis November 2022 schrieb sie kleinere und größere Artikel für das Euro Akademie Magazin.