Wir alle sind systemrelevant.

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Das Wort „systemrelevant“ war seit der Finanzkrise 2008 aus unserem Leben verschwunden. Heute wissen wir, es hatte sich nur versteckt. Mit Corona kehrte es wieder, diesmal nicht bei den Banken und Finanzdienstleistern. Das Virus lässt sich nicht mit Geld besänftigen. Jetzt gibt es andere, die die Welt am Laufen halten. Es sind vor allem die Menschen in den Gesundheitsberufen, wen sollte es wundern bei einer pandemischen Herausforderung nie dagewesenem Ausmaßes seit der Spanischen Grippe 1918.

Sie sind Altenpfleger*in, Krankenpflegehelfer*in, LKW-Fahrer*in oder Kassiererin? Dann gelten Sie in den Zeiten von Corona als systemrelevant. „Endlich!“ möchte man rufen, endlich haben alle erkannt, wie wertvoll und unverzichtbar Pflegekräfte für unser Land sind. Professionell Pflegende werden tatsächlich gerade mehr denn je gesehen und anerkannt – auch wenn der Grund dafür ein trauriger ist. Sie werden auch von Menschen beachtet, die bislang nichts mit dem Kranksein zu tun hatten oder haben wollten, die sich sicher wähnten.

Die Pandemie zeigt uns, dass jeder angreifbar ist, ob arm oder reich, alt oder jung, Unternehmensberater*in oder Bandarbeiter*in. Und, was noch viel wichtiger für unser „System“ ist, dass wir tatsächlich dringend mehr gut ausgebildete Pflegekräfte brauchen. Altenpfleger, die nicht auch noch die Schicht der ausgefallenen Kollegin übernehmen müssen. Krankenpflegerinnen, die nicht mit einem Bein im Burnout stehen, weil eine Pflegekraft im Durchschnitt 13 Patient*innen versorgen muss (im Normalbetrieb, nicht in der Krise). Im Vergleich dazu haben schwedische Krankenpfleger*innen etwa acht Patient*innen zu versorgen, in den Niederlanden sogar nur sieben. Da könnte man doch glatt meinen, unsere Pflegekräfte hätten übermenschliche Kräfte – selbst jetzt, unter noch extremeren Bedingungen, leisten sie hervorragende Arbeit. Klar, das alles wussten wir vorher auch, jetzt spüren wir es.

Das Entscheidende ist, was nach dem Klatschen kommt

Also fangen wir an zu klatschen, bedanken uns im Fernsehen, im Radio, in Zeitungen und Online-Medien. Und das ist gut so! Denn positive Energie und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ist in diesen Tagen so wichtig wie nie. Es darf nur nicht bei kurzzeitigen Lobeshymnen bleiben. Die Belohnung für die professionell Pflegenden darf nicht beim Klatschen und einer einmaligen Bonuszahlung enden. Sie muss jetzt auf Dauer fortgesetzt werden. Ein Anfang ist gemacht, die Pflegeausbildung wurde reformiert. Wer sich ab 2020 zum*r Pflegefachmann*Pflegefachfrau ausbilden lässt, hat nach drei Jahren einen europaweit anerkannten Berufsabschluss in der Tasche. Und kann sich aussuchen, ob er seine wertvolle Arbeitskraft in deutschen Krankenhäusern oder Seniorenheimen einsetzt oder eben in Schweden, der Schweiz oder den Niederlanden.

Die Welt ist immer noch bunt – positive Energie hilft

Wir sehen die Welt momentan durch eine dunkelgraue Krisenbrille. Werden beherrscht von etwas, das wir weder sehen, noch riechen, noch schmecken können. Etwas, das uns räumlich und körperlich voneinander trennt. Etwas, das uns Angst macht und nicht wirklich kontrollierbar ist. Gerade in diesen Zeiten brauchen wir auch das Schöne. Musik, die uns zuversichtlich stimmt. Gemälde, die uns berühren. Geschichten, die uns neue Impulse geben. Vielleicht kennen Sie die Geschichte von Frederick, von Leo Lionni, der, als alle anderen Mäuse Nahrung für den Winter hamsterten, Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelte. Als es kalt und ungemütlich wurde, sich der Winter in die Länge zog und die Vorräte zur Neige gingen, wärmte die bloße Vorstellung der Sonnenstrahlen die Mäuse, die Geschichten vertrieben die Langeweile und die Farben gaben ihnen wieder Mut. Eine wunderbare Erzählung, die wir jetzt so gut gebrauchen können. Es geht nämlich nicht nur ums nackte Überleben, um das gesund bleiben des Körpers – sondern auch um unsere Stimmung, den Geist, die Seele. Musiker*innen, Künstler*innen und alle die zur Schönheit des Lebens beitragen, sind für mich deshalb auch systemrelevant. Sie retten uns auf eine andere Art und Weise.

Auch wie groß beispielsweise die Wirkung von Placebos auf Körperfunktionen ist, verblüfft immer wieder. Alleine die positive Erwartung, dass eine Besserung durch das angebliche Medikament eintritt, führt oft zu erstaunlich guten Ergebnissen. Denn die Psyche aktiviert biochemische Prozesse im Körper, die häufig zu messbaren Therapieerfolgen führen. Nein, ich denke nicht, dass man das Corona-Virus mit Placebos bekämpfen kann! Trotzdem ist es wichtig, dass wir unser Immunsystem auch durch positive Gedanken und Erlebnisse stärken. Dass wir unseren Fokus auf Dinge lenken, die uns gut tun. Und die Nachrichten auch mal Nachrichten sein lassen.

Welchen Wert hat die Sorgearbeit?

Stärken, trösten, malen – das machen die meisten Eltern gerade viele Stunden jeden Tag – neben ihrer Lohnarbeit. Das heißt für manche Eltern: arbeiten und schlafen in Schichten. Für einen Großteil Alleinerziehender sind Ruhezeiten in den letzten Wochen zum seltenen Luxusgut mutiert. Lange geht das nicht gut.

Ja, es könnte schlimmer kommen – wir leben nicht in einem Kriegsgebiet, sind eines der reichsten Länder der Erde und unser Gesundheitssystem scheint im Vergleich zu anderen Staaten immer noch ein gutes zu sein. Trotzdem sollte die Sorgearbeit endlich anerkannt werden. Es ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe, Kinder liebevoll und beschützt großzuziehen. Das erfordert Zeit. Vor allem Frauen übernehmen auch heute noch den größten Anteil der Sorgearbeit für Kinder oder ihre gebrechlich gewordenen Eltern. Selbstverständlich ohne Entlohnung und mit nur sehr geringem Ausgleich bei der Rente. Wie wichtig ein intakter Familienverbund ist, in dem es allen gut geht, gerade in schwierigen Zeiten, ist nie so spürbar gewesen wie im Moment. Ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, wie viel uns Sorgearbeit wert ist.

Motivation und Ziele sind entscheidend

Wenn nur manche Berufe als systemrelevant gelten, haben wir auf der anderen Seite ziemlich viele irrelevante Tätigkeiten. Die einen gegen die anderen auszuspielen oder in ihrem Wert zu vergleichen, finde ich problematisch und auch nicht richtig. Nicht jeder bringt die Fähigkeiten mit, eine gute Pflegekraft, eine freundliche Kassierer*in oder ein*e mutige*r Feuerwehrmann*frau zu sein. Wir alle tun das, was wir am besten können – ob als Künstler, Journalistin, Verkäufer oder Bankerin . Wir alle haben eine Berechtigung in diesem System. Die Frage ist doch eher, mit welcher Motivation wir unsere Profession ausüben und welche Ziele von Politik und Gesellschaft als erstrebenswert gelten. Sind es in erster Linie Geld, Statussymbole und das Streben nach immer mehr Materiellem? Oder ist es eher der Nutzen für das Gemeinwohl, die Förderung von Bildung und die Suche nach dem, was uns nachhaltig zufrieden macht?

Vielleicht könnte das Königreich Bhutan ein Vorbild sein. Dort gibt es das Bruttonationalglück, das, neben dem Bruttonationaleinkommen, den Lebensstandard der Menschen misst. Neben der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, sind die nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung der Gesellschaft, klar erklärtes politisches Ziel. Glück als offizielle Währung – ein schöner Gedanke.

In diesem Sinne: Bleiben Sie munter, Sie sind systemrelevant!

Bildquelle Beitragsbild: © artbesouro /shutterstock.com

Autor

Tanja Höfling

Von Juli 2017 bis Juli 2022 informierte die ehemalige Online-Redakteurin des Euro Akademie Magazins regelmäßig über Aktuelles und Wissenswertes zu den Themen Ausbildung, Studium und Beruf.