Bildungssystem als Behinderung? – Chancen erkennen und nutzen

0

Behinderungen sind nicht einer bestimmten Personengruppe mit körperlichen oder geistigen Handicaps zuzuordnen. In dem folgenden persönlichen Essay über mehr Barrierefreiheit im Bildungssystem fordert Caroline Schneider, Auszubildende zur Erzieherin an der Euro Akademie Berlin dazu auf, sich aktiv mit den Hemmnissen im Bildungssystem auseinanderzusetzen. Ihr Motto: Kreativität statt Kritik!

Im Rahmen meiner berufsbegleitenden Erzieherausbildung ist mir mit zunehmendem Prozess klar geworden, wie Paradox das System ist, in dem wir arbeiten und lernen. Durch das Unterrichtsthema „Behinderungendiskurs“ und die Frage, was uns in unserem Alltag eigentlich behindert, kam ich zu dem Gedanken, das Thema zu nutzen um einen Prozess zu thematisieren, den ich bei mir und im Klassenverbund beobachte. Die Frage, was uns behindert im Alltag, hat aus meiner Perspektive das Ziel, die Wahrnehmung auf dieses Thema zu verändern und Behinderung nicht als stigmatisierendes Dogma in Kombination mit einer bestimmten Personengruppe zu sehen, sondern vielmehr als natürliches Element mit dem jeder und jede zu tun hat, mehr oder weniger.

Ich möchte hier in dem kleinen Gedankenexperiment also von einer Behinderung sprechen, die ich persönlich im Bildungssystem sehe. Dabei gehe ich nicht auf den Gesamtkontext zu diesem Thema ein, sondern möchte mich auf die persönliche Wahrnehmung meiner schulischen Ausbildung konzentrieren, mit dem Ziel, meine Behinderung sichtbar zu machen und im besten Fall annehmen zu können, indem sie integriert wird.

Bildungsauftrag ohne Vorbilder

Das Paradox, von dem ich einleitend gesprochen habe, liegt für mich darin, dass wir alle ausgebildet werden sollen zu Erzieher*innen mit Bildungsauftrag, selbst aber oft keine vorbildliche Bildung vermittelt bekommen, an der wir lernen können.

Wir lernen über Konzepte, wie Montessori, Waldorf, freie Schulen, Partizipation und andere Bildungswege, die als förderlich für den aktuellen Bildungsdiskurs angesehen werden. In unserer eigenen Erwachsenenbildung wird aber genau das leider oft nicht umgesetzt und die Unterrichtsgestaltung verläuft nach alten Mustern mit Frontalunterricht, Klassenräumen mit Schulbänken und Stühlen, Klausuren und Referaten.

Bei mir persönlich führte diese Reflexion zu Frustration und wenig Lust auf Bildung und ich habe begonnen meine Ausbildung mehr und mehr nur noch in der Praxisstelle zu suchen, weil mich das Bildungsangebot selten inspiriert hat. Man stelle sich vor, mit wie wenig Lust ein Kind in den Kindergarten kommen würde, wenn es ein unzureichendes Bildungsangebot vorfindet, weil die Erzieher frustriert weitergeben, was ihnen in der Schule vorgelebt wurde.

Das System an den Menschen anpassen – nicht den Menschen ans System

Die Kunst liegt darin, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und Behinderungen, die einige aufgrund unseres Bildungssystems verspüren, zu integrieren und das System anzupassen, anstatt davon auszugehen, dass ein Lehrsystem auf alle passen würde.

Mangel und Frustration als Chance für den Lernprozess

Frustration im Unterricht

Durch das aktuelle Unterrichtsthema kam ich nun zu einem Perspektivwechsel. Was ist, wenn ich diese Behinderung als Chance wahrnehme? Selbst aktiv werde und eine Unterrichtsgestaltung, wie auch von der Schule vorgeschlagen, mit mehr Barrierefreiheit für unsere Bedürfnisse verfolge?

Den Mangel und meine Frustration kann ich als Chance für einen vielleicht umso besseren Lernprozess sehen, als wenn mir ausschließlich Unterricht vom Feinsten geliefert wird. Die Kritik zu nutzen, um selbst aktiv zu werden. Versuchen den Unterricht so zu gestalten und sich so einbringen, dass man Behinderungen besser annehmen kann und nicht darüber in den Widerstand ohne Effekt geht.

Umfassende Bildung durch Eigeninitiative

Indem wir lernen, selbst Vorbild unseres eigenen Bildungsweges zu werden, so wie wir ihn uns wünschen, lernen wir meiner Ansicht nach unglaublich viel über methodische Kompetenzen, Selbstreflexion und unsere eigene Persönlichkeit. Ich stelle mir vor, wie sich dieser Prozess dann auch positiver auf die Arbeit mit den Jugendlichen und Kindern auswirken kann. Ich möchte dafür plädieren, diese Behinderung nicht nur als etwas Negatives, Störendes wahrzunehmen, sondern zu schauen, ob und wo darin eine Chance liegen kann.

Es geht mir um Partizipation statt Rebellion in der Unterrichtsgestaltung, um damit einen Prozess für alle zu finden, der von der Resignation zur Inklusion führt. Es geht mir darum, die eigene Haltung des Schülerseins zu überprüfen und gegebenenfalls in die Position der Lehrenden zu wechseln, um an diesem Prozess wiederum wie ein Schüler/eine Schülerin zu lernen. Die Schule bietet für mich den Experimentierraum dafür.

Der Lehrer als Coach für selbstbestimmte Schüler

Wenn wir selbst Zeit bekommen, die Behinderungen im Schulalltag zu analysieren und im Unterricht zu integrieren Eigeninitiative als Bildungsform begreifen und bei diesem Lern– und Lehrprozess an die Hand genommen werden, sind für mich schon einige Wege der Barrierefreiheit geschafft.

Ich stelle mir eine Lernform vor, bei der sich die Schüler das Wissen in Begleitung von Fachkräften als Coach selbst beibringen und sehe diese Struktur in einigen Unterrichtsangeboten schon in einer unglaublich bereichernden Art und Weise.

Strukturelle Behinderungen im Bildungssystem auf höherer Ebene, von Senat und Land, sind für dieses Essay zunächst nicht in den Fokus genommen worden.

Mein abschließendes Motto: Frustration als Bildungsweg! Kreativität statt Kritik!

Mein Ziel: Mehr Lust auf Bildung und Schule.

Autor

Schüler*innen der Euro Akademie

In dieser Rubrik schildern Schüler*innen der Euro Akademien ihre persönlichen Erfahrungen zum Thema Ausbildung, berichten über Projekte, Praktika oder Veranstaltungen und geben anderen Lernenden wertvolle Tipps. Sie gehen dabei auf Fragen ein, auf die sie vor und in ihrer Ausbildungszeit selbst gern Antworten gehabt hätten.