Physiotherapeutin im Interview – „Ein unglaublich vielseitiger Beruf“

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Physiotherapeuten helfen anderen Menschen wieder in Bewegung zu kommen. Aber nicht nur das, sie fördern durch ihre Behandlungen die Selbstständigkeit ihrer Patienten, die manchmal durch einen Unfall oder eine Erkrankung verloren gegangen ist. Oft sind sie eine Anlaufstelle für chronische Schmerzpatienten.

Was den Beruf des Physiotherapeuten ausmacht und wie der Berufsalltag aussieht, erfahren Sie in unserem Interview mit Christine Nissen, die seit elf Jahren als selbstständige Physiotherapeutin in ihrer Praxis in Alzenau arbeitet.

Warum sind Sie Physiotherapeutin geworden?

Ich wollte nach dem Abi erstmal etwas Praktisches machen, gern im medizinischen Bereich. Und ich suchte nach einem Beruf, in dem ich auch mit Familie stundenweise arbeiten kann. Falls das mit der Familie nicht klappen sollte, hatte ich vor, anschließend Medizin zu studieren. Ich gehöre einem der geburtenstarken Jahrgänge an und musste einen kleinen Umweg machen, bevor ich endlich einen Ausbildungsplatz für Krankengymnastik (Anm. Red.: Berufsbezeichnung vor Änderung der Ausbildungsordnung 1994) bekam.

Seit wann arbeiten Sie als Physiotherapeutin?

Ich arbeite seit 1990 als Krankengymnastin. Als meine beiden Kinder zur Welt kamen, habe ich jeweils eine Auszeit von einem Jahr gemacht, dann bin ich mit einem Minijob wieder eingestiegen. Vor elf Jahren habe ich mich selbstständig gemacht.

Arbeiten Sie schon immer in einer Praxis?

Zur Ausbildung gehörte damals ein Anerkennungsjahr, das man im Krankenhaus absolvieren musste, danach habe ich nur noch in Praxen gearbeitet.

Was ist anders an der Arbeit in einer Klinik im Vergleich zur Arbeit in der Praxis?

Mir war in der Klinik zu viel Leerlauf. Man ging zu dem Patienten ins Krankenzimmer, war ein paar Minuten am Arbeiten, meistens wurde dann die Behandlung schon wieder unterbrochen, weil der Patient zum Beispiel zu einer Untersuchung musste. So sind viele Leerzeiten entstanden, das fand ich ziemlich unbefriedigend.

Gehschule

© Wavebreak Media LTD/Getty Images (ehem. Corbis)

Vielleicht ist das heute straffer organisiert, die Arbeit in der Klinik ist bei mir ja schon 27 Jahre her. Da ich vorher schon in einer Massagepraxis tätig war, war ich ein anderes Arbeiten gewohnt. In der Praxis hat man einen klaren Zeitplan und die Patienten kommen in einer bestimmten Taktung, je nach Praxis dauert die Behandlung zwischen 20 und 30 Minuten. Außerdem sieht man den Patienten bis zu seiner Genesung. Bei manchen Verletzungen wird es erst richtig interessant, wenn der Patient wieder richtig belasten darf. Dann macht man fast kleine Sporteinheiten.

Im Krankenhaus geht es meistens um die erste Mobilisation, Spannungs- und Atemübungen, oder man zeigt gerade einmal das Laufen an Unterarmstützen, dann wird der Patient entlassen. Anders ist es in einer Rehabilitationseinrichtung: Da ist man auch mehr oder weniger in einer Klinik, es geht aber darum, den Patienten wieder bis zur Alltagstauglichkeit oder Arbeitsfähigkeit zu trainieren.

Was ist das Schönste am Beruf des Physiotherapeuten?

Training von Sportlern

© Whisson/Jordan/Getty Images (ehem. Corbis)

Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten. Neben dem Krankheitsbild, ist die Persönlichkeit des Patienten entscheidend. Nur wenn ich weiß, wo ich den Patienten abholen muss, kann ich erfolgreich therapieren. Die Arbeit ist abwechslungsreich. Je nachdem, wo man arbeitet, hat man unterschiedliche Herausforderungen – von der manuellen Arbeit am Patienten über die Anleitung gymnastischer Übungen bis hin zu Hausbesuchen oder dem Training von Sportlern. Es ist ein unglaublich vielseitiger Beruf.

Welche Erkrankungen und Beschwerden kommen am häufigsten vor?

Natürlich die Volkskrankheit Rückenschmerzen, mit Schwerpunkt im Halsbereich oder in der Lendenwirbelsäule. Aber im Großen und Ganzen kommen bei mir neben Rückenpatienten viele Patienten mit Schulterbeschwerden und Knochenbrüchen in die Praxis – zurzeit habe ich mehrere Patienten mit einer Handgelenksfraktur in Behandlung. Außerdem, da wir auch Lymphdrainage anbieten, Patienten mit Stauungsproblematiken –  meist als Folge einer Krebserkrankung.

Wie läuft eine physiotherapeutische Behandlung ab und wie lange kommen die Patienten im Durchschnitt zu Ihnen?

Beim ersten Behandlungstermin wird, nach Studieren des Rezeptes, eine Anamnese (Anm. Red.: Krankheitsgeschichte) erstellt. Was, wann, wo, wie lange – man versucht sich möglichst ein genaues Bild der Beschwerden zu machen. Nach der Anamnese werden einige Tests durchgeführt. Dann hat man meist eine Idee und einen Plan im Kopf, wie man das Problem in den Griff bekommen kann.

manuelle physiotherapeutische Behandlung

© Whisson/Jordan/Getty Images (ehem. Corbis)

Oft ist das ein fließender Übergang zwischen Behandlung, Befragung und Testen. Bei der zweiten Behandlung weiß man meist schon, ob die Richtung stimmt – wichtig ist, dass erstmal keine Verschlechterung eingetreten ist. Je nach Beschwerdebild gibt es, wenn man auf dem richtigen Weg ist, eine Erleichterung. Es ist wichtig, immer wieder mit dem Patienten zu reden und nachzufragen beziehungsweise die Diagnostik zu erweitern.

In der Regel bekommen die Patienten zwei Rezepte, das sind 12 Behandlungseinheiten. Das meiste ist durch den Heilmittelkatalog festgelegt. 18 Behandlungen sind bei normalen Beschwerden das Maximum, dann muss ein Patient 12 Wochen Pause machen, bevor er bei gleicher Diagnose eine neue Behandlung bekommen darf. Ein Drittel der Patienten kommen aber als sogenannte Dauerpatienten, das sind Patienten mit chronischen Erkrankungen. Meistens nach einer Krebserkrankung, bei denen es zu Stauungsproblematiken kommen kann. Aber auch Menschen nach Schlaganfall oder anderen chronischen Leiden. Hier geht es dann um den Erhalt der Selbständigkeit beziehungsweise der Verhinderung noch größerer Einschränkungen.

Sie sind direkter Ansprechpartner der Patienten. Nehmen Sie viele Geschichten Ihrer Patienten mit nach Hause?

Ja, manche Schicksale gehen mir schon unter die Haut. Dann trage ich das schon ein paar Tage mit mir herum. Es tut dann gut, sich mit Kollegen auszutauschen. Nach ein paar Tagen finde ich meine professionelle Distanz wieder. Von vielen Dauerpatienten weiß ich eine Menge über ihr Leben – aber ehrlich gesagt – die auch von meinem.

Was können Berufseinsteiger tun, um professionelle Distanz zu wahren und trotzdem ein offenes Ohr zu haben?

Ansprechpartner für den Patienten

© Wavebreak Media LTD/Getty Images (ehem. Corbis)

Oh je, ich glaube, das ist sehr individuell. Man lernt mitunter in der Ausbildung schon sich abzugrenzen. Wo ist mein Bereich? Manchmal muss man schon aufpassen, dass man nicht “ausgesaugt“ wird. Zuhören und das Problem bei dem lassen, dem es gehört. Ich kann als Therapeut nicht die Probleme der Welt lösen und darin bin ich auch nicht ausgebildet. Wir sind Physiotherapeuten, keine Psychologen.

Als Physiotherapeut muss man sich immer wieder fortbilden. Welche Fortbildungen haben Sie bereits absolviert und warum sind die Fortbildungen so wichtig?

Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit schon ziemlich viele Fortbildungen gemacht. Angefangen mit Manueller Lymphdrainage über Cyriax, Manuelle Therapie und Sportphysiotherapie bis hin zu Brügger und Osteopathie. Außerdem war ich immer wieder auf Kongressen und keinen Fortbildungen vor Ort. Wir haben ein paar Kollegen, die am Untermain solche Veranstaltungen organisieren.

Ich gehe gerne zu Fortbildungen, um neuen Input zu bekommen. Jeder Therapeut hat bestimmte Handgriffe und Übungen, die ihm liegen und andere, die hintenüberfallen. Es ist gut, immer mal wieder aus seinem Trott herauszukommen und sich mit Neuem auseinanderzusetzen. So entwickelt sich langsam aber sicher ein ausgewogener Therapiestil.

Als Physiotherapeut arbeiten Sie in erster Linie körperlich, um Ihren Patienten zu helfen. Wie halten Sie sich fit?

Ich bin ein Bewegungsmensch, früher war ich zwei bis drei Mal die Woche Joggen. Habe Kinderturnen unterrichtet und mich dabei selber fit und beweglich gehalten. Eine Zeitlang habe ich Aquajogging gemacht, außerdem spiele ich regelmäßig Tennis. Am Wochenende bin ich mit meinem Mann Radfahren oder wir machen große Spaziergänge. Mit zunehmendem Alter mache ich auch Gymnastik und leichtes Krafttraining – vorgenommen habe ich mir zwei Einheiten die Woche, da könnte ich etwas konsequenter sein.

Welche drei Eigenschaften sollte man als Physiotherapeut unbedingt mitbringen?

Ich persönlich halte eine grundlegende Sportlichkeit für wichtig. Außerdem sollte man ein Gefühl für Bewegung haben, Spaß am Umgang mit Menschen sowie die Fähigkeit auf Menschen zuzugehen.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich für Ihren Arbeitsalltag wünschen?

Immer genug Zeit für alle Patienten zu haben. Etwas weniger Bürokratie in unserem Beruf und eine bessere Bezahlung, damit uns nicht der Nachwuchs flöten geht. Im Moment gibt es kaum freie Kollegen auf dem Arbeitsmarkt.

Vielen Dank für das Interview, Frau Nissen!

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Autor

Tanja Höfling

Von Juli 2017 bis Juli 2022 informierte die ehemalige Online-Redakteurin des Euro Akademie Magazins regelmäßig über Aktuelles und Wissenswertes zu den Themen Ausbildung, Studium und Beruf.