Brauchen wir ein verpflichtendes soziales Jahr?

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Nachdem CDU-Chef Friedrich Merz sich positiv gegenüber der Idee geäußert hat, flammt sie wieder auf: die Debatte über ein verpflichtendes soziales Jahr nach der Schule. Ins Spiel gebracht hat diese Idee der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview mit der Bild am Sonntag: „Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein. Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn.“  Der Vorschlag findet viel Zuspruch, gerade auch unter Jugendlichen. In aktuellen Umfragen sprechen sich mehr als die Hälfte der 14- bis 24-Jährigen dafür aus. Aber es gibt auch viel Gegenwind. Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) positioniert sich klar: „Das kann nur aus einer freien Entscheidung entstehen. Wir haben nicht das Recht, über die Lebensläufe der jungen Menschen zu entscheiden.“

Und auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) spricht sich gegen ein verpflichtendes soziales Jahr aus. „Ich setze weiter auf das Freiwillige Soziale Jahr und unterstütze nicht den Vorstoß für ein Pflichtjahr“, betont sie in einer Kabinettssitzung. Ist ein verpflichtendes soziales Jahr nach der Schule also eine gute Idee? Wir haben uns die Argumente mal angeschaut.

Bildung der Persönlichkeit

Bildung ist viel mehr als Formeln anwenden und Vokabeln pauken. Empathie, Zivilcourage, Lebenserfahrung, Respekt, Menschlichkeit und Toleranz sind genauso wichtig, um ein verantwortungsvolles und eigenständiges Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. All das kann die Schule nicht ausreichend vermitteln, man muss dafür „echte“ Erfahrungen sammeln. In sozialen Institutionen lernt man, soziale Verantwortung zu übernehmen und sich für andere einzusetzen. Für viele Schulabgänger*innen wäre ein soziales Jahr also ein wertvolles Erlebnis, das sich positiv auf ihre persönliche und soziale Entwicklung auswirkt und sie in ihrem gesamten Leben weiterbringt.

Zwang ist immer falsch

Ein soziales Jahr ist also eine tolle Sache, keine Frage. Aber: Jede*r kann nach der Schule ein soziales Jahr oder ein ökologisches Jahr absolvieren – nur eben freiwillig. Die 35.000 Bufdis und 52.000 FSJler*innen haben sich bewusst für ihren Einsatz entschieden, sind motiviert und möchten etwas lernen. Was aber, wenn man junge Erwachsene zwingt, Senior*innen zu pflegen oder Kinder zu betreuen? Wer keine Lust auf die Arbeit hat, wird auch nicht sein Bestes geben und die Zeit sicher nicht in guter Erinnerung behalten. Und die Betreuten leiden genauso unter einer unmotivierten Helferin im Pflegeheim oder einem miesgelaunten Spielkameraden im Kindergarten.

Die Gesellschaft wächst zusammen

Sehen Sie sich als wichtigen Teil der deutschen Gesellschaft? Ich persönlich fühle mich als Teil meiner Gemeinde, wenn ich am Dorffest beim Kuchenverkauf helfe oder Unterschriften für eine neue Fußgängerampel sammle. Aber als Teil der „Gemeinschaft Deutschland“? Eher nicht. Ein Dienst an der Gesellschaft sorgt für diesen Zusammenhalt und ein Gefühl von Gemeinschaft. Man lernt ganz unterschiedliche Menschen kennen, bricht aus seiner „Bubble“ aus und beginnt, andere Lebensentwürfe zu verstehen und zu schätzen.

Andere Länder machen es vor: In Frankreich gibt es seit 2019 den Service national universel, ein verpflichtender Nationaldienst, der mindestens einen Monat dauert und französische Werte vermitteln, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und das soziale Engagement fördern soll.

Der Wert der Care-Arbeit

Ein weiterer Grund, der häufig als Argument für ein verpflichtendes soziales Jahr angeführt wird, ist der Mangel an Fachkräften in Pädagogik und Pflege. Die Jugendlichen können einerseits die ausgebildeten Fachkräfte unterstützen und außerdem vielleicht Gefallen an dem Beruf finden und später selbst in diesem Bereich arbeiten, so der Gedanke. Dabei könnte ein soziales Pflichtjahr die Attraktivität dieser Berufe nur noch mehr senken.

Würden wir einen Pflichtdienst für Schulabgänger*innen auch für Managerinnen-Jobs bei großen Unternehmen fordern? Für Ingenieur*innen? Für Unternehmensberater*innen? Warum nicht? An den verantwortungsvollen Aufgaben kann es nicht liegen. Die Pflege der Alten und Kranken und die Erziehung der Kinder ist so viel wichtiger als Mails zu beantworten, Autos zu bauen oder Verhandlungen zu führen. Dafür ist neben persönlichen Voraussetzungen eine fundierte Ausbildung unerlässlich. Könnte es vielleicht am Gehalt liegen? Für die gut bezahlten Jobs findet sich sowieso genug Nachwuchs, da muss man nicht auf „billige Arbeitskräfte“ zurückgreifen. Stellt sich nur die Frage: „Warum zur Hölle werden Pflegefachkräfte und Erzieher*innen nicht besser bezahlt?“

Ein verpflichtendes soziales Jahr birgt die Gefahr, diese Gehälter noch weiter zu drücken und dabei Qualität in Care-Berufen einzubüßen. Denn warum sollte ich eine gut ausgebildete Fachkraft bezahlen, wenn eine Pflichtkraft mich nichts oder nur wenig kostet – dabei bleiben Fachwissen und Berufserfahrung natürlich auf der Strecke.

Viel besser als ein soziales Pflichtjahr einzuführen ist also, Berufe im Care-Bereich endlich die Wertschätzung zu geben, die ihnen zusteht, gesellschaftlich und finanziell. Das würde auch viele Jugendliche inspirieren, sich nach der Schule für einen sozialen Dienst zu entscheiden – aber freiwillig und ohne Zwang.

Autor

Anna Rüppel

Anna Rüppel ist mit 1,78 m die Größte, wenn es um Ausbildung und Beruf geht. Als Kind war sie kleiner. Von April 2019 bis November 2022 schrieb sie kleinere und größere Artikel für das Euro Akademie Magazin.