Gewaltfreie Kommunikation: Mehr Giraffen braucht das Land

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Tom liegt trommelnd am Boden. Seit exakt 20 Minuten und 34 Sekunden ist er am Brüllen. Ohne Unterlass. Niemand kann den kleinen Schreihals davon überzeugen, an den Tisch zu kommen, an dem die anderen Kinder schon fast mit dem Mittagessen fertig sind. Tom will weiter mit seinem Bagger spielen. Dabei wollte Rolf doch, dass die Kinder zusammen Mittag essen – ein friedliches Miteinander war das Bedürfnis des Erziehers. Jetzt ist das Gegenteil eingetreten. Wie kann der Erzieher, der sichtlich überfordert ist, das Kind zur Ruhe bringen ohne seinerseits die Stimme zu erheben? Die Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation nach Dr. Marshall B. Rosenberg weisen Auswege aus derartigen Situationen und sind somit ein Konzept, das nicht nur den Kita-Alltag verbessert.

Der Psychologe Dr. Marshall B. Rosenberg gilt als Erfinder der Gewaltfreien Kommunikation, die er spielerisch auch als „Giraffensprache“ bezeichnete, da die gefleckten Tiere ein großes Herz und durch den langen Hals einen gewissen „Weitblick“ haben. Der US-Amerikaner Rosenberg engagierte sich in der Umkehrung der Rassentrennung in den USA und setzte sich in Krisengebieten weltweit für friedliche Lösungen der Konflikte ein. Aber nicht nur auf der großen politischen Bühne, sondern auch in unserem Alltag können seine Empfehlungen zur konstruktiven Bearbeitung von Konflikten und einer wertschätzenden Beziehung zu unseren Mitmenschen beitragen. Dabei ist es wichtig, sich sowohl ehrlich auszudrücken als auch empathisch zuzuhören.

In vier Schritten zum Erfolg

Laut seines Konzepts gelangen wir in vier Schritten zu einer aufrichtigen Bitte, die wir unserem Gegenüber mitteilen können:

  • a) Beschreiben der Situation

Zunächst einmal sollte man die Situation möglichst objektiv beschreiben. Dabei ist es wichtig, nicht in Bewertungen zu verfallen. Rolf könnte Tom also mitteilen, was aus seiner Sicht gerade passiert: „Du liegst seit fast einer halben Stunde auf dem Boden und schreist.“ Tom als „Schreihals“ zu bezeichnen – wie ich es in der Einleitung gemacht habe – wäre eine Bewertung und entspricht somit nicht den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation. Rosenberg weist explizit darauf hin, dass moralische Bewertungen und Zuschreibungen von Eigenschaften einer friedlichen Beziehung nicht förderlich sind.

  • b) Benennen meiner Gefühle

Anschließend kann man seiner Gefühle in der aktuellen Situation benennen. Rolf könnte sagen, dass er „überfordert“ oder „wütend“ ist, sich vielleicht „nicht mehr zu helfen weiß“. Es wäre hingegen keine gute Idee, davon zu sprechen, dass er „enttäuscht“ ist. Denn damit würde Rolf nicht selbst die Verantwortung für seine Gefühle übernehmen, sondern Tom die Schuld zuschieben, da er den Erzieher enttäuscht hat.

  • c) Mitteilen meines Bedürfnisses

Als dritten Schritt kann man sein eigenes Bedürfnis mitteilen und benennen. Da niemand Gedanken lesen kann, darf man nicht voraussetzen, dass das Gegenüber automatisch weiß, was in uns vorgeht. Woher sollte Tom wissen, dass Rolf das Bedürfnis hat, mit allen Kindern gemeinsam Mittag zu essen? Insbesondere, wenn Tom das dringende Bedürfnis hat, mit dem Bagger zu spielen.

  • d) Formulieren einer Bitte – aber bitte gewaltfrei!

Deswegen sollte Rolf schließlich eine Bitte gegenüber Tom formulieren: „Ich möchte gerne, dass du auch mit an den Tisch kommst, damit wir dort gemeinsam essen können.“ Dabei sollte der Erzieher den Jungen nicht unter Druck setzen, sondern ihm einen Kompromiss anbieten. Statt: „Sonst gibt es heute kein Mittagessen für dich“, also besser: „Würdest du das Spielen für eine Stunde unterbrechen? Wir stellen den Bagger so lange zur Seite. Nach dem Essen darfst du ihn dir wieder nehmen.“

In wenigen Worten formuliert sind die folgenden zwei Sätze das „Erfolgsrezept“ zu einer gewaltfreien Kommunikation:

„Wenn ich a sehe, dann fühle ich b, weil ich c brauche. Deshalb möchte ich jetzt gerne d.“

Vielen Trainer*innen im Bereich Gewaltfreie Kommunikation ist es ein echtes Anliegen, ihr Wissen mit dem Ziel einer friedvolleren Welt weiterzugeben, sodass sie Ihre Informationen oft ohne wirtschaftliches Interesse – also kostenlos – teilen. Eine übersichtliche Einführung in die Theorien von Dr. Marshall B. Rosenberg findet sich beispielsweise auf der Website des „forums gewaltfreie kommunikation berlin“.

Wolfssprache

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Und wo es eine „Giraffensprache“ gibt, gibt es auch eine „Wolfssprache“. Die Grenzen sind fließend, und oft ist uns gar nicht bewusst, dass unsere Kommunikation gerade „wölfische“ Anteile hat. Diese „schlechte Art“ sich mitzuteilen nannte Rosenberg auch „lebensentfremdende Kommunikation“. Sie ist gekennzeichnet durch moralisches Urteilen, wie oben schon erwähnt. Auch Vergleiche sind schwierig, da sie eine (charakterliche) Bewertung beinhalten. (Auf-) Forderungen wie „Du sollst nicht mit vollem Mund sprechen!“ können ein Kleinkind nachhaltig irritieren. Es fühlt sich nicht verstanden in seinem Bedürfnis sich mitzuteilen und wird beim nächsten Mal vielleicht lieber schweigen. Dabei kann im schlimmsten Fall das Gefühl für seine eigenen Bedürfnisse verloren gehen, da ihm diese nicht mehr wichtig erscheinen.

Auch wenn in der Pädagogik der Ansatz der „Positiven Verstärkung“ gelobt wird, ist auch dieser gemäß der Gewaltfreien Kommunikation zumindest als kritisch zu betrachten. Lob und Belohnung sind laut Rosenberg lediglich die Umkehrungen von Sanktionierung und daher genauso schlimm wie Bestrafungen. Menschen streben dadurch nach Belohnung und nicht nach echter menschlicher Begegnung. Wir sollten Dinge nicht tun, um anderen zu gefallen, sondern weil wir eine intrinsische Motivation dazu verspüren. Wir sollten eine Sache der Sache wegen machen.

Mensch oder Maschine?

In der Theorie klingt das alles sehr einleuchtend und man mag sich fragen, wieso es in der Welt überhaupt noch Konflikte und Kriege gibt. Dennoch stoßen Erzieher*innen bei wahrnehmungsbeeinträchtigten Kindern mit den Methoden der Gewaltfreien Kommunikation häufig an ihre Grenzen. Wenn den Kindern die Fähigkeit zur Empathie fehlt, gibt es keinen Ansatz für die Erzieherinnen und Erzieher. Hier hilft oft nur noch eine Therapie, die die Kompetenzen von pädagogischen Fachkräften übersteigt.

Und auch Vätern und Müttern reißt sicher manchmal die Hutschnur, wenn der Nachwuchs zum wiederholten Mal den Spinat auf dem Teppich verteilt oder einfach keine Hausaufgaben machen will. Eindrücklich schildert der ansonsten friedfertige Brigitte-Autor Till Raether sein eigenes Versagen in dem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Der letzte Schrei“. Man fühlt mit ihm.

Und dennoch sollte man versuchen, sein eigenes Gesprächsmuster hin und wieder zu hinterfragen. Manchmal sollte man erst einmal innehalten, bevor man antwortet. Denn Sprache ist nicht dazu da, Mauern zu errichten – sie soll Fenster öffnen.

Lesetipp zum Thema Gewaltfreie Kommunikation in der Erziehung:


Frank und Gundi Gaschler: „Ich will verstehen, was du wirklich brauchst. Gewaltfreie Kommunikation mit Kindern“ (Kösel Verlag) / ISBN-13: 978-3-466-30756-2

Titelbild: John Michael Vosloo/shutterstock


Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.