Neuroprothesen: Neues von der Gehirn-Computer-Schnittstelle

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Wenn Menschen durch Krankheit oder einen Unfall ihre Sprache verlieren, ist das ein prägnanter Einschnitt in deren Leben, der alles auf den Kopf stellt. Auch Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit motorischen Störungen, geistigen Behinderungen, Autismus oder verzögerter Sprachentwicklung leiden unter der fehlenden Fähigkeit, zu sprechen. Denn durch Kommunikation können wir uns untereinander austauschen, Kontakt zu anderen aufnehmen, Bedürfnisse mitteilen oder – ganz praktisch – in der Bäckerei unsere Brötchen bestellen. Damit der Verlust der Sprache keine ausweglose Situation bleibt, arbeitet die Forschung stetig an neuen Ideen. Jüngste Studien zeigen eine rasante Entwicklung. Wir stellen eine Studie näher vor.

Status Quo 

Dass sich Betroffene auch ohne zu sprechen verständlich machen können, ist unterschiedlichen Hilfsmitteln zu verdanken. Das Fachgebiet der Unterstützten Kommunikation (UK) beschäftigt sich mit den pädagogischen oder therapeutischen Maßnahmen, die eine Erweiterung der kommunikativen Möglichkeiten bei Menschen ohne Lautsprache zum Ziel haben. Patient*innen, denen die motorischen Fähigkeiten des Sprechens verloren gingen, haben statische und dynamische Sprachcomputer zur Verfügung. Dabei greifen sie auf ein weitgefächertes Spektrum an Eingabehilfen zurück: Touchfunktion, Maus, Joystick, Taster, Kopf- und Mundsteuerung, Augensteuerung sowie Muskelsensoren – abhängig von der Art und Schwere ihrer Einschränkungen.

Neue Studie 

Während die Betroffenen bisher also auf die Bedienung von Hilfsmitteln angewiesen waren, um Text zu produzieren, soll dieser Zwischenschritt künftig wegfallen. Stattdessen sollen – grob gesagt – Gedanken bzw. Hirnaktivitäten über ein Hirnimplantat in Sprache verwandelt werden. Wir hatten bereits im Oktober 2019 über Versuche in der Universitätsklinik Bergmannsheil in Bochum berichtet, in denen gelähmte Proband*innen mittels Gehirn-Computer-Schnittstelle ihren Rollstuhl steuern konnten. Eine in der letzten Woche veröffentlichte Studie eines Teams von Wissenschaftler*innen um Francis R. Willett der Stanford University mit dem Titel „A high-performance speech neuroprosthesis“ berichtet jetzt über Fortschritte im Bereich der neurowissenschaftlichen Forschung, in denen es um die Decodierung von Hirnströmen geht.

Die Studie nimmt Personen mit Lähmungen des Sprachapparates in den Fokus – etwa Menschen mit der degenerativen Muskelkrankheit ALS oder nach einem Hirnschlag. Deren Sprach- und Bewegungsapparat ist häufig durch die neurologische Störung stark beeinträchtigt. Die Forschergruppe zeichnete Hirnaktivitäten einer Probandin mit ALS auf, während diese versuchte, Sätze zu formulieren. Es gelang den Wissenschaftler*innen anschließend, die Hirnströme zu entschlüsseln und in (geschriebenen und gesprochenen) Text umzuwandeln. 

Was war dafür nötig? Mittels Elektroenzephalografie (EEG) wurden Hirnströme in dem Bereich der Großhirnrinde gemessen, in der Sprache in willkürliche Bewegung umgewandelt wird (Prämotorischer Kortex bzw. Brodmann-Areal 6). Währenddessen versuchte die Probandin, vorgegebene Laute und Wörter zu artikulieren. Mittels eines RNN-Dekoders und nach einem mehrwöchigen Training desselbigen gelang es, den jeweiligen Daten aus dem EEG ein Phonem bzw. Laut zuzuordnen und danach die am ehesten wahrscheinliche Kombination von Wörtern zu ermitteln, die daraus resultieren könnte.

Auf diese Weise schaffte es das Team, mit einer Fehlerquote von nur 9,1 Prozent (bei einem Wortschatz von 50 Begriffen) bzw. 23,8 Prozent (bei einem Wortschatz von 125.000 Begriffen) die gedachte Sprache korrekt als Text auf einem Bildschirm auszuspielen. Beim kleinen Wörterpool produzierten sie somit fast dreimal weniger Fehler als in vergleichbaren bisherigen Versuchen. Mit größeren Wörterpools gibt es überhaupt noch keine derartigen Studien. Auch die Geschwindigkeit der Übersetzung war überraschend: Mit 62 Wörtern in der Minute waren sie fast dreieinhalbmal so schnell wie vorherige Aufzeichnungen und nähern sich so der natürlichen Sprechgeschwindigkeit von 160 Wörtern pro Minute an.

Blick in die Zukunft

Die Wissenschaftler*innen unterstreichen im Schlusswort ihrer Studie zwei Aspekte: Sie konnten den Bereich, in dem Sprache artikuliert wird, weiter einschränken, und feststellen, dass selbst Jahre nach der Aphasie immer noch eine detaillierte Repräsentation der Phoneme vorhanden ist. Damit haben sie den Weg für weitere vielversprechende Forschung in dem Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstelle geebnet – und für viele Betroffene den Weg zu einem selbstbestimmten Leben und Partizipation am gesellschaftlichen Leben.

Bildquelle Beitragsbild: © Microgen/shutterstock.com

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.