Pretty Privilege: schön – und gut?

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Ich bin stolze Besitzerin einer sehr schönen Hündin. Sie ist wirklich ein Prachtexemplar: glänzendes rötlich-braunes Fell, ebenmäßige Gesichtszüge, elfenbeinfarbene Zähne, stabiler Körperbau. Wäre für jedes Kompliment, das ich in der S-Bahn, auf der Straße oder im Park für sie bekommen habe, ein Geldbetrag auf mein Konto eingegangen  ich wäre heute eine reiche Frau. Leider bin ich keine reiche Frau, sondern eher eine sorgengeplagte, denn meine hübsche Hündin liebt es, unbekannte Artgenoss*innen unverblümt anzukläffen. Das wissen bloß die meisten nicht, denn die meisten sehen nur ihr wunderschönes Äußeres. 

Sowas nennt man in der Welt der Menschen übrigens: Pretty Privilege. Attraktiven Menschen werden aufgrund ihres makellosen Aussehens weitere positive Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben – bestätigt auch eine 2021 veröffentlichte Studie. So wie man bei meiner Hündin denkt, sie sei ein braver Hund, der nie bellt und auf jedes Kommando sofort pflichtbewusst reagiert, geht man davon aus, dass hübsche Menschen auch gleichzeitig freundlich, schlau und gesund seien. Als allgemein schön geltende Menschen haben es daher in vielen Bereichen einfacher als Menschen, die von der allgemeinen Schönheitsnorm abweichen. 

“I can see your halo”

Die Attraktivitätsforschung untermauert den sogenannten Halo-Effekt aus wissenschaftlicher Sicht. Bei diesem Phänomen löst eine bekannte Eigenschaft Schlussfolgerungen auf weitere Charakteristiken einer Person aus, ohne dass diese unabhängig überprüft oder gar bestätigt wurden. Der Halo-Effekt bedient sich oft bei Stereotypen, die sich allein anhand der Optik ausmachen lassen: Menschen mit Brille wirken intelligent und belesen, ältere Personen mit ergrauten Haaren erscheinen uns weise und besonnen – junge Leute mit Tattoos dagegen beurteilen wir als unzuverlässig und faul. Da dieser Prozess unterbewusst abläuft, ist es schwer, ihn zu durchbrechen. 

Attraktivität macht sich bezahlt

Der Bereich Attraktivitätsforschung, der in der Soziologie angesiedelt ist, beschäftigt sich damit, die gesellschaftliche Auswirkung von Attraktivität zu untersuchen. In einer Studie von 2015 ließ sich belegen, dass gutaussehende Angestellte bis zu 15 Prozent mehr verdienen als ihre Kolleg*innen, die als weniger attraktiv angesehen werden. Weitere Studien ergaben, dass größere Männer mehr als kleine Männer verdienen. Bei Frauen korreliert das Gehalt mit dem Body Mass Index: Übergewicht wirkt sich negativ auf den Lohn aus. Aber die Bevorzugung beginnt schon im Kindesalter. In der Kita schließen die niedlichen Kinder schneller Freundschaften, in der Schule bekommen sie die besseren Noten und auch bei der späteren Partnersuche sind sie erfolgreicher. Die Gutaussehenden bekommen die Zusage bei der gefragten Immobilie und die milderen Strafen vor Gericht. 

Lookismus: Diskriminierung aufgrund des Aussehens

Auch wenn Schönheit angeblich im Auge des Betrachters liegt, so lassen sich doch einige allgemeingültige Merkmale ausmachen: ein symmetrisches Gesicht, große Augen, reine Haut, bei Frauen eine zierliche Nase und bei Männern ein markantes Kinn. Dies sind alles Schönheitsmerkmale, die dem Auge schmeicheln. Wer von dieser Norm abweicht oder gar erkennbare körperliche Behinderungen hat, hat es schwerer, sein Gegenüber von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Auch diese Diskriminierung hat – wie Rassismus, Sexismus oder Ableismus – einen griffigen Namen: Man spricht hier von Lookismus.  

Trend zur Selbstoptimierung

Doch es gibt einen Wirtschaftszweig, der vom Lookismus profitiert: die Kosmetikbranche und die Schönheitsindustrie. Und diese freuen sich über ein kontinuierliches Wachstum: Brachte der Handel mit Kosmetikprodukten in den USA 2019 bereits 75 Milliarden US-Dollar Umsatz, so rechnet man 2025 noch einmal mit einer erheblichen Steigerung auf 101 Milliarden US-Dollar. Influencer*innen verstärken diesen Trend zur Selbstoptimierung, denn junge Menschen nehmen sich die Stars aus den sozialen Medien zum Vorbild und versuchen, durch Schönheits-OPs dem Aussehen ihrer Idole nachzueifern. Jugendliche befinden sich in einem permanenten „Schönheitsstress“: Sie haben Angst vor Ausgrenzung und Benachteiligung, wenn sie den gängigen Schönheitsidealen nicht gerecht werden können. Gerade (junge) Männer sind mehr und mehr davon betroffen: 2020 wurden 10 Prozent der plastischen Eingriffe in Deutschland beim männlichen Geschlecht vorgenommen, Tendenz steigend. 

Was tun?

Wie kann man diesen Trend zur Oberflächlichkeit durchbrechen? Im Falle von Diskriminierungen kommen oft verschiedene Faktoren zusammen. Die Wissenschaft spricht von Intersektionalität, wenn eine Benachteiligung sich nicht auf ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern verschiedene Dimensionen wie Alter, Herkunft, Hautfarbe, Aussehen etc. ineinandergreifen. Auch lässt sich an objektiven Kriterien schwer nachweisen, dass ein*e Bewerber*in um eine offene Stelle aufgrund seines*ihres Aussehens abgelehnt wurde. Zum einen lässt sich der Geschmack der Personalentscheider*innen und Vorgesetzten nicht einschätzen, zum anderen würde man den*die Bewerber*in erst recht diskriminieren, wenn man ihm*ihr als Beurteiler*in des Sachverhalts das Label „hässlich“ verpasst. 

Eine wirksame Maßnahme, die einige Firmen bereits ergriffen haben, ist hingegen der vollständige Verzicht auf Fotos bei Bewerbungen – oder gar vollständig anonymisiserte Bewerbungsverfahren. Einige Orchester führen zudem sogenannte „Blind Auditions“ durch, wenn sie neue Mitglieder rekrutieren, um sich voll auf deren musikalischen Kompetenzen zu konzentrieren. So rücken andere (unwichtigere) Aspekte wie Geschlecht, Alter oder Aussehen in den Hintergrund. Weiterhin können anonymisierte Tests in der Schule für mehr Objektivität bei der Bewertung führen.

Bewusstsein stärken!

Letztlich kann sich jedoch beim Thema Pretty Privilege und Lookismus jede*r nur an die eigene Nase fassen und die eigenen Beurteilungen selbst hinterfragen: Setze ich mein Kreuz in der Wahlkabine aufgrund von Kompetenz oder Körperlichkeit? Lasse ich das junge Mädchen in der Kassenschlange vor, weil es etwa zehn Minuten dauern würde, bis ich meinen Wageninhalt auf das Band geleert habe und in dieser Zeit ihr Eis bereits geschmolzen wäre – oder doch nur wegen ihrer blauen Augen? Ist mir der neue Kollege sympathisch, weil er in mein optisches Beuteschema passt oder weil wir fachlich ähnliche Ansichten teilen und noch dazu dieselbe Lieblingsautorin haben? 

Wenn dieser Artikel bei dir das Bewusstsein für Benachteiligungen aufgrund optischer Aspekte gestärkt hat, ist schon der erste Schritt zu einem gerechteren Verhalten getan.

Titelbild: Nicoleta Ionescu/shutterstock

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.