Weltentdecken Teil II: So spielt die Welt

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Wenn die Tage kürzer werden, wächst die Zeit zum Lesen, Kochen, Verwöhnen – und gemeinsamen Spielen. Der ideale Zeitpunkt also für unsere Serie „Weltentdecken“, die aktuell jeden Donnerstag (manchmal auch erst am Freitag) im Euro Akademie Magazin erscheint. Nachdem wir uns in der letzten Woche quer über den Globus gefrühstückt haben, erforschen wir im heutigen zweiten Teil, wie Kinder aus aller Welt miteinander spielen.

„Das ist für dich doch ein Kinderspiel!“ – diese Redensart kennen Sie sicherlich alle. Was soll uns das Wort „Kinderspiel“ in diesem Zusammenhang sagen? Meistens läuft es darauf hinaus, dass etwas einfach und ohne große Schwierigkeiten umsetzbar ist – dass sogar ein Kind es „spielend“ (also „mal so nebenbei“) schaffen könnte. In gewisser Weise trifft diese Behauptung zu. Denn im Gegensatz zu den Schafkopf-Regeln, die nördlich des Weißwurst-Äquators sowieso niemand so richtig versteht, sind die Spiele, die man in Kindesalter spielt, recht einfach strukturiert. Beispiel gefällig? Verstecken – daran können Sie sich bestimmt noch erinnern: Eine*r schließt die Augen, die anderen suchen sich ein sicheres Versteck. Der Suchende öffnet die Augen, nachdem er bis 20 gezählt hat, und versucht, die versteckten Freund*innen zu finden. Die Regeln sind klar, der Spaß ist groß. Und das ist doch das Wichtigste: Für die Kleinen sind solche Spiele das Größte. Sie entdecken dabei sozusagen „spielerisch“ die Welt, loten ihre Grenzen aus, erfahren ein Gruppenerlebnis, lernen dazu, begreifen Zusammenhänge. 

Das Recht auf Spiel

Auch wenn uns Kinderspiele auf den ersten Blick einfach erscheinen, sie sind unentbehrlich für die Entwicklung eines jeden Kindes. Um auch jedem Kind das Spielen zu ermöglichen, haben die Vereinten Nationen 1989 in ihrer Konvention über die Rechte des Kindes Folgendes festgelegt:

(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit an, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben. 

Artikel 31 – Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben, staatliche Förderung

UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, setzt sich stark für die Umsetzung dieses Kinderrechts ein. So stellen die Mitarbeitenden nicht nur sicher, dass insbesondere Kinder auf der Flucht in den Lagern mit Kleidung, Nahrungsmitteln und Wasser versorgt sind, sondern bieten Ihnen auch den Raum und die Utensilien zum Spielen. In Moria beispielsweise hat UNICEF große Zelte aufgestellt, in denen die Kinder spielen können. Spielmaterial wie Fußbälle, Volleybälle, Hüpfseile oder Frisbeescheiben wird auch zur Verfügung gestellt. 

Der Leopard und der Emmentaler

So universell die Wichtigkeit des Spielens ist, so unterschiedlich können die „Spielarten des Spielens“ sein. Meist haben die Kultur und die geographischen Gegebenheiten eines Landes oder einer Region starken Einfluss auf die Namen und somit auch die Szenarien der jeweiligen Spielwelten. Ob ein Kind in Berlin, Boston, Bangkok oder auf den Balearen spielt, macht also einen Unterschied. 

Das Fangspiel „Leopard und Küken“, mit dem sich Kinder in Namibia die Zeit vertreiben, macht die Heranwachsenden mit einem bekannten Wildtier des Landes und der Gefahr, die von ihm ausgeht, vertraut. Der Ablauf des Spiels „Leopard und Küken“ ist folgendermaßen:  

Zuerst stecken die Spieler*innen ein 5 x 5 Meter großes Feld mit Stöcken ab oder markieren es mit Tüchern. Ein Kind wird zum Leoparden ernannt, ein anderes stellt das Huhn dar. Die übrigen Kinder sind die Küken und stellen sich gleich hinter dem Huhn auf, indem sie dem Vordermann oder der Vorderfrau um den Bauch fassen. Dabei entsteht eine lange Kükenreihe. Diese bewegt sich nun wiegend innerhalb des Feldes vorwärts. Der Leopard umschleicht das Feld fauchend und knurrend – eine drohende Gefahr. In dem Moment, in dem der Leopard brüllend angreift, lassen sich alle Küken sofort auf den Boden fallen. Wer es nicht rechtzeitig schafft und von dem Raubtier im Laufen oder im Stehen erwischt wird, wechselt die Rollen: Dieses Kind ist als nächster der Leopard. 

Fürchtet man sich in Afrika also vor der flinken Raubkatze, ist in Kanada eher die Angst vor einem Bären eine konkrete Bedrohung. Um das bei der jüngsten Generation von Kindesbeinen an zu verinnerlichen – und natürlich auch, weil ein Fangspiel immer eine große Freude ist – gibt es dort „Der Bär will schlafen“, mit den folgenden Spielregeln: 

Ein Stuhl wird in die Mitte des Kreises gestellt: der Schlafplatz für den müden Bär, auf dem ein ausgewähltes Kind Platz nimmt und „schläft“. Die übrigen Kinder stehen weit genug um den Bären entfernt, so dass dieser sie nicht erreichen kann. Von dieser Position aus müssen sie nun versuchen, an den Bären heranzukommen, ohne dass der Bär aufwacht. Denn dann hätte er die Gelegenheit, die Kinder mit seinen Fängen zu erwischen. Wenn der Bär geschickt ist, wartet er erst mal ab, bis die Kinder immer mutiger oder unvorsichtiger werden und sich im nähern. Wenn es der Bär schafft, sich schnell eines der Kinder zu greifen, dann ist er „frei“ und darf zu den anderen Kindern. Das gefangene Kind tauscht nun Rollen mit dem Bären. 

In Dänemark, das aus der Halbinsel Jütland und weiteren Inseln besteht und folglich überall von Meer umgeben ist, heißt ein unter Kindern beliebtes Fangspiel „Wie bist du übers Meer gekommen?“. Dass es dort eine Fischerin ist, die die auf einem Bein hüpfenden, krabbelnden oder rückwärtslaufenden Kinder fangen muss, dürfte nicht weiter überraschen. Und wer kann es den Schweizer*innen verdenken, dass sie sich ein Spiel ausgedacht habe, bei dem sich die eine Hälfte der Kinder zu einem löchrigen „Emmentaler“ formiert, den die andere Gruppe durchklettern muss? Bei diesem Gruppenspiel kommen sowohl Käseliebhaber*innen als auch Bergziegen auf ihre Kosten. 

Anders – und doch ganz gleich

Wie man bereits an den oben genannten Fangspielen sieht, sind die Akteur*innen oft andere, je nach Kulturkreis und Kontinent. Dennoch ähneln sich Abläufe und Regeln. Der „Eseltreiber“ in Marokko, die „Hühnerjagd“ in Japan, „Wo ist das Pferdchen?“ in Australien – all diese Fangspiele tragen dem hohen Bewegungsdrang junger Menschen Rechnung. 

Aber auch das Gehirn kleiner Kinder will trainiert werden. In die Gruppe der Denkspiele fallen neben „Nerenchi“, das man in Sri Lanka mit zweifarbigen Steinen direkt auf dem Boden oder einem selbst bemalten Blatt spielt und das nichts anderes ist als das in Deutschland beliebte „Mühlespiel“, noch einige „exotischere“ Logiktrainings. Ein schwerer Brocken ist „Such den Stein“ aus dem westafrikanischen Liberia, das die die Kpelle-Kinder gerne spielen.  

Die Kinder legen 16 nummerierte Steine in zwei Reihen von je acht Steinen nebeneinander – also: Steine 1 bis 8 liegen in der oberen Reihe, Steine 9 bis 16 darunter, so dass sich immer Pärchen ergeben, z.Bb. 1 und 9, 2 und 10 und so weiter. Während sich ein*e Spielerin umdreht, suchen die anderen einen Stein aus, der erraten werden soll. Das ratende Kind darf viermal ein und dieselbe Frage stellen: „In welcher Reihe liegt der Stein?“. Zusätzlich sortiert es nach jeder Antwort die Steine nach einem bestimmten System um. So kann es den richtigen Stein herausfinden. Wenn das glückt, bekommt das Kind einen Punkt und das nächste ist dran. Wer nach einer Spielrunde die meisten Punkte hat, ist der*die glückliche (oder schlauste?) Gewinner*in. 

Sie finden schon die Anleitung zu schwierig? Die Wiener Zeitung hat vor einigen Jahren anlässlich des Weltspieltags am 28. Mai eine exemplarische Spielrunde gezeigt – und weitere Spiele aus den entlegensten Ecken dieser Welt vorgestellt. Ähnlichkeiten zwischen „Such den Stein“ und einem der weltweit erfolgreichsten Logikspiele „Mastermind“ sind sicher nur zufällig. 

Spiele mit Utensilien

Die meisten Kinder benötigen zum Spielen nicht einmal Utensilien. Gerade in Ländern des globalen Südens sind Zettel und Stifte nicht einfach verfügbar – an ein Brettspiel aus einem Spielegeschäft, wie wir in Deutschland es kennen, erst überhaupt nicht zu denken. Zum Glück helfen Erfindergeist und Kreativität weiter, wenn es darum geht, selbst Utensilien zu basteln oder sich mit dem Vorhandenen zu arrangieren. 

Für das „Eichhörnchenspiel“ sammeln chinesische Kinder vorab Nüsse – und zwar genau eine weniger als ihre Gruppengröße. Diese werden dann auf dem Boden verteilt. Die Kinder laufen so lange durcheinander, bis der*die Spielleiter*in ruft: „Eichhörnchen, sucht eure Nüsse!“. Jedes Kind versucht, sich schnell eine der am Boden liegenden Nüsse zu schnappen. Denn wer keine mehr ergattert, scheidet aus. Nachdem die Anzahl der Nüsse um eine reduziert wurde, geht es in die nächste Runde. Es wird solange gespielt, bis nur noch ein Eichhörnchen übrig ist. Dieses hat das Spiel gewonnen. 

In anderen Jahreszeiten als dem Herbst oder an Orten, an denen es keine Nüsse gibt, lässt sich das Spiel verändern, indem man andere kleine Objekte wie etwa Steine nutzt – und sich einfach vorstellt, es seien Nüsse. Keine Angst: Über dieses Maß an Kreativität verfügt jedes Kind. Neben Steinen sollte man auch Stöcke überall finden können. Und mit diesen kann man richtig viel anfangen. Bereits die Kleinsten können damit spielen. In Russland beispielsweise gibt es das sogenannte „Turmspiel“, bei dem zwei Kinder abwechselnd jeweils zwei Stöckchen von ungefähr der gleichen Länge übereinanderstapeln. Hierbei gibt es übrigens keine*n Gewinner*in. Ziel des Spiels ist es nämlich, einen möglichst hohen Turm gemeinsam zu bauen. Tücher sind auch beliebte Spielutensilien, mit denen sich beispielsweise Spielfelder markieren lassen oder die den Kindern in Australien beim Fangspiel „Wo ist das Pferdchen?“ als Pferdeschwanz dienen. 

And the winner is…

Wie bereits angedeutet, zielen nicht alle Spiele darauf ab, am Ende eine*n Sieger*in zu küren. Denn wenn es diese*n gibt, gibt es logischerweise auf der anderen Seite auch: Verlierer*innen. Natürlich sollten Kinder schon früh lernen, auch mit Misserfolgen gesund umzugehen. Aber gleichzeitig sollten sie nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass alles immer ein Konkurrenzkampf ist. Deshalb stärken viele Spiele das Gemeinschaftsgefühl. Ein tolles Beispiel für ein siegerloses Spiel ist das Ballspiel „Klatschball“, das man in Kamerun liebt: 

Für das Spiel wird ein kleiner Gummiball oder eine runde Frucht, etwa eine Apfelsine oder Grapefruit, benötigt. Ein etwas größerer Platz dient als Spielfeld, welches mit einem Strich in der Mitte geteilt wird. Dann werden zwei Mannschaften gebildet. Beide Mannschaften stellen sich in ihrer Hälfte ungefähr zwei Meter von der Mittellinie entfernt auf. Der*Die erste Spieler*in wirft den Ball einem Mitglied der anderen Mannschaft zu. Während des Werfens, klatschen alle einmal in die Hände. Wenn der Ball gefangen wird, stampfen alle mit den Füßen. Dann wird der Ball zur anderen Mannschaft zurückgeworfen und alle Spieler stampfen und klatschen erneut. Die einzige Regel: Niemand darf die Mittellinie überschreiten. Fängt ein Kind den Ball nicht, gibt es ihn an den*die Werfer*in zurück, damit er*sie noch einmal werfen kann. 

Aber wer ist jetzt Sieger*in und wer Verlierer*in? Niemand – das Spiel wird nur aus Freude am Rhythmus gespielt! In diesem Sinne wünschen wir alle spielbegeisterten kleinen oder großen Kindern da draußen eine schöne Herbstzeit, in der Sie sich endlich mal wieder Zeit für einen Spieleabend nehmen.

Inspiration für die Spielereise über den Globus haben wir übrigens in der Samlung „Spiele rund um die Welt“ von UNICEF sowie in der Broschüre „Spiele aus aller Welt“ des Wissenschaftsladens Bonn gefunden. Viel Spaß beim Stöbern! 

Bildquelle Beitragsbild: © Robert Kneschke/shutterstock.com

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.