Die Nürnberger Prozesse und die Gerechtigkeit der Sprache

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Luisa Schwarze ist seit September 2019 an der Euro Akademie Hannover und hat gerade das Ausbildungs- und Studienprogramm International Business Communication als Jahrgangsbeste abgeschlossen. In ihrer Facharbeit „Die Nürnberger Prozesse“ hat sich Luisa mit der Rolle der Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen während der Nürnberger Prozesse auseinandergesetzt.

Die Nürnberger Prozesse fanden vom 20. November 1945 bis zum 14. April 1949 im sogenannten Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalast statt und zogen sich über 218 Verhandlungstage hin. Die Angeklagten mit ihren Jurist*innen, die Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen, von denen rund 300 im Einsatz waren, die Journalist*innen, Stenograf*innen und die Wachen, sie alle waren ein Teil der Nürnberger Prozesse, welche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelten. Es gab 21 Angeklagte, von denen fast alle zum Tode verurteilt wurden. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde auf Deutsch, Englisch, Russisch und Französisch verhandelt.

Die Nürnberger Prozesse waren der wichtigste Bestandteil des Bestrafungsprogrammes gegen die damaligen Führer des NS-Regimes. Da an dem Krieg damals die unterschiedlichsten Nationen beteiligt waren, gab es auch die unterschiedlichsten Nationalitäten in den Nürnberger Prozessen. Damit jeder eine faire Chance hatte, wurden Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen eingesetzt.

Die Geburtsstunde des Simultandolmetschens

Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen haben im politischen Kontext eine besondere Funktion und gewährleisten eine sachliche und zielgerichtete Kommunikation. Die Nürnberger Prozesse haben maßgeblich dazu beigetragen, insbesondere die Rolle von Simultandolmetscher*innen zu professionalisieren und die dafür notwendigen technischen Voraussetzungen zu etablieren. Die Nürnberger Prozesse gelten daher auch als die Geburtsstunde des Simultandolmetschens, bis dahin wurde konsekutiv gedolmetscht, was jedoch sehr viel mehr Zeit in Anspruch nahm.

Auch das Übersetzen wurde gut organisiert. Es gab acht Teams mit jeweils 20-25 Übersetzer*innen pro Team. Jedes Team erfüllte dabei eine bestimmte Sprachenkombination. Eines der Teams zum Beispiel fertigte die Übersetzungen an, während ein anderes Team diese zur Korrektur las.

Folgende Ansprüche wurden an die Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen gestellt: überdurchschnittliche Sprachkenntnisse, die Fähigkeit, sich dem Sprachfluss der Rednerin oder des Redners anzupassen, eine gute Allgemeinbildung, kulturelles Hintergrundwissen, Beherrschung des Fachvokabulars aus ganz verschiedenen Bereichen wie Politik, Recht und Medizin, sowie die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung in Stresssituationen. Aufgrund der sprachlichen Anforderungen waren die meisten Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen Immigrant*innen und teilweise selbst von den Kriegsverbrechen betroffen.

Die Nürnberger Prozesse haben die Herausforderungen des Berufes einer großen Öffentlichkeit nähergebracht. Die Beteiligten mussten nicht nur ihre Rolle als Gerichtsdolmetscher*innen zuverlässig erfüllen und besonders detailgetreu und sachlich übersetzen, sondern standen auch vor der Herausforderung, Distanz zu den geschilderten Verbrechen zu wahren, für deren Aufarbeitung Justiz und Politik bis dahin keine Beispiele und Herangehensweise kannten.

Ein belastender Prozess

„Ich wollte die Menschen sehen, die so etwas tun konnten. Verstehen, wie so etwas möglich war“, so der Übersetzer und Dolmetscher George Sakheim. Die Nürnberger Prozesse zeigten erstmals auch die emotional belastende Seite des Berufes. George Sakheim wurde nicht nur in der Hauptverhandlung als Dolmetscher eingesetzt, sondern auch in ca. 20 Einzelverhören. Dort traf Sakheim auf eine Grausamkeit, die er nie für möglich gehalten hätte.

Der Dolmetscher Armand Jacoubovitch brach während der Prozesse in der Kabine zusammen, weil er seine gesamte Familie im Holocaust verloren hatte und die Berichte der Angeklagten nicht länger aushielt. Niemand blieb während der Gesamtdauer der Prozesse im Einsatz.

Die Gerechtigkeit der Sprache

Als Gerichtsdolmetscher*innen und Übersetzer*innen mussten sie einen entsprechenden Eid ablegen, was auch heute noch gängige Praxis ist. Auch die Angeklagten hatten das Recht „verstanden“ zu werden, man spricht von der Gerechtigkeit der Sprache. Dies bedeutet, dass Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen mit ihrer Fähigkeit zwischen mehreren Sprachen zu vermitteln, eine Gerechtigkeit für all diejenigen schaffen können, die sich in einer anderen Sprache nicht selbst verteidigen können. Jeder hat das Recht darauf, sich und seinen Fall zu erklären. Dies war nicht nur bei den Nürnberger Prozessen der Fall, auch heute noch gilt die Gerechtigkeit der Sprache.

Mit meiner Facharbeit wollte ich zeigen, dass Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen nicht nur Maschinen sind, die einfach das Gesagte in einer anderen Sprache wiedergeben, sondern dass ihre Gefühle und Betroffenheit einer Übersetzung erst Menschlichkeit und damit eine besondere Wirksamkeit und historische Bedeutung verleihen.

Text: Luisa Schwarze, Euro Akademie Hannover, Absolventin des Studienprogramms International Business Communication

Bildnachweis: National Archives, College Park, MD, USA

Autor

Schüler*innen der Euro Akademie

In dieser Rubrik schildern Schüler*innen der Euro Akademien ihre persönlichen Erfahrungen zum Thema Ausbildung, berichten über Projekte, Praktika oder Veranstaltungen und geben anderen Lernenden wertvolle Tipps. Sie gehen dabei auf Fragen ein, auf die sie vor und in ihrer Ausbildungszeit selbst gern Antworten gehabt hätten.