Senioren-Rikschas: Das Recht auf Wind im Haar

0

Der Sommer hält allerorten Einzug und damit hat auch die Radl-Saison wieder begonnen. Dank einer Idee aus Dänemark dürfen sich auch Menschen auf das Radfahren freuen, die selbst nicht mehr auf den Sattel steigen können.

Radfahren ist einfach die beste Fortbewegungsart überhaupt. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen: Man erlebt mehr als beim Gehen, kommt schneller von A nach B und verbrennt statt teurem und umweltunfreundlichem Treibstoff allerhöchstens ein paar Kalorien. Manche Leute sollen das Radfahren sogar – ganz ohne Ziel – als reinen Selbstzweck betreiben. Denn Radfahren bedeutet Freiheit und Unabhängigkeit. Wind im Haar und ein Lächeln im Gesicht. Aber sind diejenigen, die nicht (mehr) aufs Rad steigen können, dann unfrei und abhängig? In gewisser Weise schon.

Trotzdem mobil 

Glücklicherweise gibt es aber auch Trykes (also: moderne Dreiräder) und andere Spezialräder, mit denen körperlich beeinträchtigte Menschen ihren Einschränkungen trotzen und die Freiheit des Radfahrens erleben können. Schwieriger ist es für ältere Menschen, denen die Kraft zum Treten fehlt. Diese sind oft verurteilt, ihre letzte Lebensphase an einem einzigen Ort – häufig dem Seniorenheim – zu verbringen und darauf zu warten, dass hin und wieder jemand zu Besuch vorbeischaut und ihren eintönigen Alltag unterbricht.

Von Dänemark nach Deutschland

Ole Kassow, ein Marketing-Spezialist aus Kopenhagen, hatte 2013 eine Idee, die das ereignisarme Leben vieler Senior*innen zum Positiven veränderte: Er gründete „Cycling uden alder“ („Radeln ohne Alter“) und begann, ältere Menschen mit einer Rikscha spazieren zu fahren. Die Bewegung hat sich innerhalb weniger Jahre nicht nur in Skandinavien, sondern auch über viele europäische Länder bis in 52 Länder auf allen fünf Kontinenten ausgebreitet. Das Interesse ist enorm!

Die fünf Leitbegriffe

Auch in Deutschland gibt es in allen 16 Bundesländern Initiativen bzw. Ortsgruppen von „Radeln ohne Alter Deutschland e.V.“, die das Herumkutschieren der Seniorinnen und Senioren organisieren und promoten. Die Ausfahrten basieren auf fünf Leitbegriffen:

  • Großzügigkeit: Die Ausfahrten sind ein Geschenk der Pilot*innen an die Passagiere, denn sie geben ihre Zeit ohne dafür eine Gegenleistung oder finanzielle Entlohnung zu erwarten.
  • Langsamkeit: Sowohl für die Passagier*innen als auch für die Pilot*innen stellt die Rikschafahrt eine kleine Auszeit vom Alltag dar. Hektik hat hier keinen Platz, weshalb die Fahrer*innen auch ausreichend Zeit für die Unternehmung einplanen sollten (zwischen zwei und vier Stunden sind ideal).
  • Geschichten erzählen: Ältere Menschen haben naturgemäß schon viel erlebt. Keine Frage, dass eine Fahrt durch ihre Stadt oder ihr altes Wohnviertel sie an früher denken lässt. Ihnen dabei zuzuhören sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Noch besser, wenn die Rikschafahrer*innen aufrichtiges Interesse an den „Geschichten von damals“ haben.
  • Beziehungen: Wenn man häufiger ein und dieselben Passagier*innen kutschiert, kann es schnell passieren, dass man eine Bindung zu den Menschen aufbaut. Das ist überhaupt nicht schlimm, sondern erwünscht.
  • ohne Alter: Wie der Name des Vereins schon sagt – das Alter spielt keine Rolle, weder bei den Mitfahrer*innen noch bei den Fahrer*innen. Und man braucht auch nur kaum sportliche Ambitionen und ein wenig Geschick, um eine Rikscha zu lenken.

„Social Distancing“ in Zeiten von Corona

Gerade in den vergangenen zwei Jahren, in denen auch Seniorenheime von der Coronapandemie und den damit einhergehenden Einschränkungen stark betroffen waren, bildeten die Ausfahrten mit der Rikscha – coronakonform an der frischen Luft – eine willkommene Abwechslung zum Alltag im Heim. Mit dem regelmäßigen Rikscha-Rollen konnten die Freiwilligen den Senior*innen ein Gefühl von Freiheit, Teilhabe und Nähe schenken. Das Gefühl von Einsamkeit lässt nach. Nicht selten bieten die Ausflüge noch Tage und Wochen später Gesprächsthemen am Essenstisch. Es sind eben die kleinen Abenteuer, die auch im Alter das Leben lebenswert machen.

Wissenschaftlich belegt

Die positive Wirkung des Radelns lässt sich auch wissenschaftlich untermauern: „Die Lebenszufriedenheit steigt, wenn Menschen viele Alltagswege mit dem Fahrrad zurücklegen können“, erklärt der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli. Und das Tolle an „Radeln ohne Alter“: Mit den regelmäßigen Fahrten sind gleich zwei Menschen zufriedener mit ihrem Leben – Fahrer*in und Passagier*in. Ein beidseitiger Gewinn also.

Seien Sie dabei!

Auf der Webseite des Vereins „Radeln ohne Alter“ finden Sie reichlich Informationen – egal ob Sie selbst in die Pedale treten wollen, es sich auf der Sitzbank bequem machen möchten oder darüber nachdenken, in Ihrer Stadt oder in Ihrer Pflegeeinrichtung einen eigenen Standort zu gründen. Vielerlei Best-Practice-Beispiele und Presseberichte über die Radl-Projekte, die man dort auch findet, machen Lust auf mehr. Mehr Wind im Haar!

Beitragsbilder: Guido Werner

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.