Kleine und große Alltagsfluchten – Teil III: Erstmal für immer

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Ein durchschnittlicher deutscher Urlaub dauerte vor vier Jahren (und damit vor Corona) knapp 13 Tage. Sagt zumindest Statista. Madeleine Becker, die im Spätsommer 2018 mit ihrem Auto von Jena nach Kärnten fuhr, um dort abseits von allem Alltagstrubel ein paar Tage mit sich und der Natur zu verbringen, ist nicht gerade ein Paradebeispiel einer deutschen Urlauberin. Denn sie blieb. Und zwar: erstmal für immer.

So ganz stimmt das natürlich nicht. Zwischen Urlaub und Bleiben lagen noch ein paar Monate und einige Hindernisse, die überwunden werden mussten, bevor die studierte Historikerin, Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin das beschauliche österreichische Örtchen Mörtschach ihre neue Heimat nennen konnte. Wie das Entdecken, Ankommen und Einleben während ihres ersten Hofjahres verliefen, beschreibt Madeleine Becker in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Erstmal für immer“.

Vor Sonnenaufgang

Der Untertitel „Vom Hörsaal in den Kuhstall“ lässt vermuten, dass da ganz unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinanderprallten. Schenkte Frau Freudig, wie sich Madeleine Becker auf ihrem erfolgreichen Instagram-Kanal nennt, früher in ihrem Studentenjob als Servicekraft auf Hochzeiten bis spät in die Nacht Cocktails aus, so steht sie auf dem Lindlerhof nun oft vor Sonnenaufgang im Stall, um die Kühe zu versorgen.

Eine rote Linie lässt sich dabei erkennen: Madeleine war in ihrem alten Leben und ist auch in ihrem neuen Leben ein durch und durch organisierter und strukturierter Mensch – mit Ehrgeiz und Prinzipien. Mit Ehrgeiz hat sie das Projekt Buch in einer Rekordzeit von knapp einem Jahr von der Idee (Manuskript) in die Tat (Buch) umgesetzt. Und von ihren Prinzipien findet man ganz viele im Buch.

Klartext

Sei es der Umgang mit den Tieren oder Vorurteile gegenüber Landwirt*innen – Madeleine Becker, die konsequent auf Fleisch verzichtet und als Bio-Bäuerin lernbegierige Quereinsteigerin ist, nimmt kein Blatt vor den Mund. In dem Kapitel „Von dummen Bauern und lila Milchkühen“ räumt sie mit vielen Klischees auf. Nicht nur mit dem des vermeintlich niedrigen IQs von Landwirt*innen, sondern auch mit unserer romantischen Vorstellung davon, dass Fleischesser*innen darauf vertrauen könnten, dass das Tier, das auf ihrem Teller liegt, vorher „auf den saftig grünen Wiesen umherstreifen und das Gesicht der Sonne entgegenstrecken konnte, dass es glücklich war und nie gelitten hat.“ Als nicht-vegetarische*r Leser*in muss man mit diesen starken Meinungen klarkommen. Sie sozusagen erstmal „verdauen“. Aber wer weiß – ohne dass man seine Gewohnheiten vollkommen ändert, schaut man mit diesem Blick hinter die Kulissen künftig vielleicht anders ins Tiefkühlregal des nächsten Supermarkts? Und kauft dann doch lieber direkt beim Erzeuger.

Ein Knochenjob vor Alpenkulisse

Frau Freudig hat auf dem Lindlerhof gleich mehrere Jobs übernommen: Sie ist Kuhflüsterer, Herdenmanagerin, Landschaftsgärtner, Traktorfahrerin, Tierarzthelfer, Putzfrau, Handwerker, Kellnerin – alles in allem ein ziemlicher Knochenjob, der ihr auch körperlich viel abverlangt. Dennoch möchte sie (meistens) nicht tauschen. Auch wenn Madeleine Becker nicht endgültig entscheiden kann, ob sie nun lieber Stadtmensch oder Landei ist, gibt es durchaus auch Dinge, die sie in Mörtschach uneingeschränkt liebt: die Kühe, die Hühner, die Katzen, die Kaninchen, den eigenen Gemüsegarten.

„Wir ernten, was wir säen“

Letzterem hat sie ein komplettes Kapitel gewidmet. Was mit zwei Hochbeeten im Hof begann, war schnell zu einem riesigen Selbstversorgergarten angewachsen. Sogar die Schwiegereltern (mit denen es ansonsten nicht immer einfach zu sein scheint) waren voller Lob und Anerkennung. Und Tourist*innen, die auf dem zum Hof gehörigen Campingplatz logierten, fragten neugierig nach Gemüse für ihre Gaskocher. Nachdem Madeleine Becker die Saison über geerntet, klein geschnitten, eingefroren, eingekocht, getrocknet sowie Marmeladen, Säfte, Gelees und Sirup hergestellt hat, hatte sie am Ende der Saison Einsicht und somit neue Pläne für das neue Jahr: Die Erzeugnisse sollen im Hofladen an Tourist*innen und Einheimische verkauft werden.

Herzschmerz mit Happy End

Aber Madeleine Becker hat nicht nur zu den Tieren und dem Gemüse eine besondere Beziehung. Denn auf dem Lindlerhof haben sich nicht zuletzt auch „zwei Vollidioten gefunden“. Klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich romantisch – das Kapitel über das Annähern von Madeleine und Lukas, dem Sohn des Lindlerhof-Bauern, ist es aber. Eine klassische Liebesgeschichte mit Herzschmerz, der ein oder anderen Träne, überraschenden Wendungen, die letztlich zum Happy End führen. Zumindest: erstmal.

Das Buch, das auf Anhieb in der Spiegel-Bestsellerliste landete, ist trotz seiner 288 Seiten ein recht kurzweiliges Lesevergnügen, bei dem man viel über die ungeschönte Realität auf einem österreichischen Bauernhof erfährt. 55 farbige Abbildungen gibt es auch dazu. Die sind dafür besonders schön.

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 27.01.2022
288 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06329-6

Bildquelle Beitragsbild: © FooTToo/shutterstock.com

Autor

Nadine Elbert

Seit August 2019 schreibt Nadine Elbert hier im Wechsel über Themen aus den Bereichen Ausbildung, Studium und Beruf – und schöpft dabei auch aus ihrem reichhaltigen persönlichen Erfahrungsschatz.