Spicken: ein Kavaliersdelikt oder „voll daneben“?

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Für so manche*n Schüler*in war eine schriftliche Prüfung schon zu Ende, bevor sie offiziell beendet wurde. Erwischen sie jemanden beim Spicken, kennen die allermeisten Lehrkräfte keine Gnade: Setzen, Sechs!

Das sollte man riskieren, meint Nadine Elbert – denn Spicken gehört zum Leben wie der Vokuhila zum Lockdown. Hier beichtet sie uns ihre eigenen Spickerfahrungen. Bleibt nur zu hoffen, dass Biolehrer Herr Sommer diesen Text nicht liest. Ihre Kollegin Anna Rüppel dagegen muss erstmal ihr Latein-Trauma verarbeiten. Mit Spickzetteln hat sie nur schlechte Erfahrungen gemacht. Auf wessen Seite schlagen Sie sich?

Nach über 20 Jahren ist es an der Zeit, endlich die „Vergehen“ aus der Schulzeit zu beichten. Schlecht fühlt sich Nadine Elbert dabei überhaupt nicht – ganz im Gegenteil!

Hallo Herr Sommer! Falls Sie zufällig in den Unweiten des weltweiten Netzes diesen Artikel entdecken – ich gebe es offen zu: Damals, vor etwas über 20 Jahren, waren weder mein hartes Büffeln, noch meine plötzliche Erleuchtung im Hinblick auf komplexe biochemische Prozesse der Grund, weshalb ich Ihnen einen ebenso wunderschönen wie fehlerfreien Ablauf des Zitronensäurezyklus auf das Klausurenpapier gepinselt habe, das Sie mir Ihrerseits mit einer hübschen roten 15 versehen bei Klausurenrückgabe ausgehändigt haben. 15 Punkte – eine glatte Eins! Wer hätte das gedacht, wo ich in der vorherigen schriftlichen Prüfung mit Ach und Krach ein „ausreichend“ geschafft habe? Nun gut, ich gebe es heute zu: Ich hatte mir den Zitronensäurezyklus am Abend vorher fein säuberlich auf ein kariertes Papier gemalt und dieses am Morgen der Klausur mit der Hilfe einer Feinstrumpfhose auf meinem linken Oberschenkel fixiert. Tja, junge Mädchen tragen oft kurze Röcke – ich trug meinen an diesem Sommertag nicht, um die Jungs aus dem Jahrgang zu betören, sondern um meine Biologie-Note auf dem Abizeugnis zu retten.

Das ganze Leben besteht aus Prüfungen

Ähnliche Bekenntnisse kann sicher jede*r von Ihnen machen, verehrte Leser*innen. Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Ich rede heute auch so offen darüber, weil ich mit mir längst im Reinen bin. In der Zwischenzeit habe ich eine Ausbildung absolviert, ein Studium gemeistert, eine Fortbildung zur Massagepraktikerin gemacht und ein Volontariat mit Erfolg abgeschlossen. In dieser Zeit habe ich viele weitere Prüfungen bestanden – 99,9 Prozent davon ohne „unlautere Mittel“. Die allermeisten Spickzettel haben mich nämlich gar nicht erst mit zum Prüfungstermin begleitet. Sie landeten schon vorher im Papierkorb. Dennoch haben sie mir dabei geholfen, den Lernstoff im Gedächtnis zu behalten. Beim Erstellen der Spicker musste ich komplexe Sachverhalte visualisieren, viele Inhalte auf das Wesentliche reduzieren, Struktur in den Lernstoff bringen – allein dadurch konnte ich mich in der Prüfung auch ohne die Zettel in meinem Schreibmäppchen an alles erinnern.

Schule sollte auf das Leben vorbereiten

Und wenn die Erinnerung mal aussetzt, man ein ungeplantes Blackout hat, gibt es noch eine weitere Möglichkeit, sich zu helfen. Eine sichere Quelle, um während einer Klausur an schnelles Wissen zu kommen: das Klausurenpapier des*der Sitznachbar*in. Wieso sollte man nur im Unterricht Teamwork machen dürfen? Spätestens wenn die Schüler*innen im Arbeitsleben angekommen sind, werden sie merken, dass das Wissen des Einzelnen nichts wert ist, wenn er oder sie sich nicht ins Team integrieren kann. Niemand sitzt alleine in seinem Kämmerchen und heckt dort Dienstpläne, Marketingstrategien oder Kalkulationstabellen aus. In so gut wie jedem Job ist Zusammenarbeit gefragt (selbst beim Zünden einer Atombombe übrigens – Gott sei Dank!). Und wer das früh begreift, ist klar im Vorteil. Insofern hat es mich auch nicht gewundert, dass mein Französischlehrer (Herr Sommer junior, nicht verwandt oder verschwägert mit dem Biologie-Sommer von oben) regelmäßig während der Klausuren den Raum verließ. Damit gab er uns die Möglichkeit, schon als Schüler*innen unsere kameradschaftlichen Kompetenzen zu trainieren, indem wir wahlweise Wissen weitergaben oder empfingen – je nach individuellem Kenntnisstand. Welch weiser Mann – wenn es nur mehr Lehrer*innen mit dieser Größe gäbe!

Anna Rüppel findet Spicken einfach nur rüpelhaft!

Wenn Frau Fuchs mit strenger Miene die Lateinklausuren austeilte, rutschte mein Herz immer tief in die Hose. Das lag sicher an meinen – sagen wir mal – ausbaufähigen Kenntnissen in dieser zu Recht toten Sprache. Meistens geriet ich aber in Panik wegen dem kleinen „Geheimnis“ in meinem Mäppchen: ein in winziger Schrift sorgsam beschriebenes Zettelchen mit den wichtigsten Vokabeln und grammatischen Konstruktionen. Mit einer schlechten Note durch eine ehrliche Mischung aus Faulheit und Unfähigkeit konnte ich umgehen. Die Schmach, vor der ganzen Klasse beim Spicken erwischt zu werden, jagte mir aber eine Heidenangst ein. Warum ich trotzdem regelmäßig einen Spickzettel vorbereitet habe? Ich weiß es nicht – geholfen hat er mir nicht.

Tod dem ACI! Und dem Spickzettel natürlich auch…

Wahrscheinlich habe ich auch an all die Ammenmärchen geglaubt, die man sich zum Spicken erzählt. Man fühlt sich damit sicherer – pah! Mir hat die Angst ertappt zu werden einige schlechte Noten beschert. Und das geschieht mir ganz recht, schließlich haben meine klugen Mitschüler*innen viel Zeit mit Lernen verbracht. Warum sollte ich also für meine Nicht-Leistung mit einer guten Zensur belohnt werden? Spicken ist Schummeln und damit schlicht und ergreifend unfair. Im „richtigen“ Leben möchte ich auch für echte Leistungen belohnt werden und mich nicht mit fremden Federn schmücken. Glauben Sie mir, ich muss es wissen: Nur ein Rüpel spickt!

Dann gibt es noch das Lieblingsargument der Spickfans: Wenn man den Stoff in einem Spicker zusammenfasst, kann man ihn sich besser merken? Von wegen! Sicher hätte es meiner Lateinnote gut getan, den ACI auch tatsächlich zu verstehen, anstatt nur stumpf die Erklärung aus dem Buch abzupinseln (vielleicht wüsste ich dann heute auch noch, für was diese drei Buchstaben eigentlich stehen).

Ich packe meinen Koffer

Dieses tiefe Verständnis eines Themas ist doch das, was der Unterricht eigentlich vermitteln sollte. In der Schule hat das bei mir nicht so geklappt. Im Studium aber lernte ich Kofferklausuren kennen: eine Prüfung, bei der alle Hilfsmittel zugelassen sind. Vorbei die Zeit der eng bekritzelten Papierfetzen, des heimlichen Ins-Mäppchen-Schielens und des sturen Auswendiglernens. Plötzlich ging es darum, den Stoff wirklich zu verstehen, sich eigene Gedanken zu machen und Stellung zu nehmen.  

Und genau darauf sollte der Fokus beim Lernen liegen. Wer sich mit den Hintergründen beschäftigt, eigene Ideen hat, den Stoff mit Freund*innen diskutiert oder eine Sprache auch im Alltag anwendet, braucht keinen Spicker mehr. Nur bei toten Sprachen funktioniert das natürlich nicht – aber ich hoffe für Sie, dass Sie die niemals lernen müssen!

Bildquelle Beitragsbild: ©vchal/shutterstock.com

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